Bad Segeberg: Jüdisches Leben mit Stolpersteinen sichtbarer machen

Schon öfter hat sich die Stadt selbst insgesamt nicht gerade hervorgetan, wenn es ums Erinnern an jüdische Mitmenschen ging. So wird die Gedenkstätte der alten Synagoge auf Hochglanz poliert – aber nur, wenn etwa offizieller Besuch ansteht. Ansonsten verdreckt das Areal nur allzu schnell. Manchmal kommen Schüler vorbei, um es sichtbar zu machen. Die Bemühungen um den jüdischen Friedhof oder den Erhalt alter Gräber halten sich in Grenzen. Durch Corona fällt nun, wenig überraschend, auch die Veranstaltung zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar aus. Eine Menschentraube, wie zur Erinnerung an die Novemberpogrome von 1938 vor zwei Monaten, möchte man vermeiden. Genauso wie eine Anti-Rassismus-Demo wie vor zwei Jahren. Doch was tun ohne Präsenztermin? Die Stadt hat keine Idee. Es soll bei einer Mahnwache bleiben. Alternativen gibt es nicht. Stolpersteine: Gunter Demnig sagt Verlegung ab: Die Ideen haben andere. Und davon sogar reichlich. So soll im Laufe dieses Jahres eine Reihe von Projekten angeschoben werden. Nicht nur die Gräueltaten vor 80 Jahren sollen dadurch für immer unvergessen gemacht werden. Es soll auch um das Leben gehen, gar um eine Stadt als Aushängeschild für jüdisches Leben. Als „Tag der Befreiung“ ist der 27. Januar 1945 in die Geschichte eingegangen. Der Tag, an dem die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz befreit hat. 1996 wurde der Tag zum Gedenktag, ins Leben gerufen vom ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog. Seither wird an das beispiellose Morden von Millionen von Menschen erinnert. Vor allem Juden, aber nicht nur. Opfer der Massenvernichtung waren auch Homosexuelle, Roma, Behinderte und andere. 2005 wurde der Tag zum internationalen Gedenktag. Seither finden auch in Bad Segeberg jährlich Veranstaltungen statt. Die Jüdische und Evangelische Gemeinde sowie die Stadt wechseln sich als Gastgeber ab. Üblicherweise gibt es Wortbeiträge und Musik. Es gab aber auch schon ein Theaterstück ; es wurden Namen oder Tagebucheinträge vorgelesen. Nicht selten wird ein Bezug zu aktueller Gewalt hergestellt. Nicht selten kommen aber auch mehr Menschen zum Gedenken, als erwartet. Vor über einem Jahr sorgte Bad Segeberg für Schlagzeilen durch neue rechte Umtriebe. Zahlreiche Aktionen dagegen waren die Folge. Bürgervorsteherin Monika Saggau glaubt, dass das regelmäßige Gedenken auch als Fundament und Netzwerk dazu beigetragen hat. „Dass die Segeberger aufgestanden sind, hat mich sehr gerührt. Das macht mich stolz und zeigt mir: Das ist meine Stadt, hier haben Rassisten keinen Nährboden“, sagt sie. Deshalb bedauert sie es, dass die Veranstaltung in diesem Jahr ausfallen muss. Eine Mahnwache vor dem Rathaus mit einzelnen Würdenträgern soll es dennoch geben. „Fast vier Generationen danach können viele mit dem 27. Januar nichts anfangen. Wir wollen nicht, dass das untergeht, dafür ist das zu wichtig.“ Schon bald kommen weitere Stolpersteine in die Bürgersteige. 13 Stück sind bestellt, damit soll die Zahl in Bad Segeberg zunächst auf 23 wachsen. Eigentlich war das für den 15. Februar geplant. Doch in dieser Woche hat der Künstler Gunter Demnig sämtliche Termine im Februar abgesagt. „Abgesagt heißt in diesem Fall ersatzlos gestrichen“, bedauert der Initiator Axel Winkler. Natürlich sei das aufgrund der Corona-Situation vernünftig. Schade dennoch, denn Programm, Redebeiträge und Ablauf standen schon fest. Elf weitere Stolpersteine sind schon beantragt: Verlegt werden die Messingtafeln trotzdem. „Wir machen es einfach selbst“, sagt Winkler. Die Stolpersteine würden vom Demnig-Team zugesandt. Möglicherweise könnten das sogar Schüler der Dahlmannschule in die Hand nehmen. „Das wäre eine sehr gute Alternative, begleitet von einem Fachmann“, sagt Winkler. Kurzerhand wurde ein neuer Termin gefunden, und zwar der 29. März. Treff ist am Platz der alten Synagoge, wo fünf Steine gelegt werden; für Ernst, Anna, Samuel und Gitella Beer, die 14 Jahre lang in der Synagoge wohnten und ermordet oder vertrieben wurden, sowie für Julius Baruch, der in den Freitod getrieben worden war. Bei der Gelegenheit verrät Winkler auch, dass das Projekt längst noch nicht abgeschlossen ist. Elf weitere Steine sind bereits beantragt, genehmigt und finanziert. Sie sollen im Oktober gelegt werden. Und zwar alle an eine Stelle. In der Kurhausstraße soll der Familie Levy gedacht werden – einer Mutter und ihrer zehn Kinder, die von den Nazis getötet oder vertrieben worden waren. Durch die Steine bekommen die Opfer eine Identität, ihre Namen zurück. Denn diese Menschen waren einst fester Bestandteil der Segeberger Gesellschaft. Die Gesamtzahl der Stolpersteine würde dann bei 34 liegen, für eine Stadt wie Bad Segeberg eine beachtliche Anzahl. Hunderte Jahre voller Leben und Alltag abbilden: Winkler hat noch mehr vor. So will er mit Heino Ullrich vom Förderverein Judentum in Schleswig-Holstein die Geschichte der jüdischen Gemeinde in der Stadt und Schleswig-Holstein in der neuen Synagoge sichtbar machen. Damit geht es bewusst weg vom dunklen Kapitel des Zweiten Weltkriegs – hin zum Leben. „Der Gedenktag im Januar ist wichtig, um deutlich zu machen, was passiert ist“, sagt Walter Blender, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Bad Segeberg. „Aber es gab auch eine Zeit vorher. Hunderte Jahre. Das wollen wir abbilden und gegenüberstellen.“ Anlass ist das ausgerufene Festjahr 2021, in dem Juden nachweislich seit 1700 Jahren in Deutschland leben. Eine Herausforderung der Gegenwart liege darin, dass die Menschen gar nicht wüssten, was Juden sind. Oder was ihre Religion ausmache. „Sie haben nie etwas von diesem Leben mitbekommen, sodass man annehmen könnte, das gab es nicht“, sagt Blender. Und so wolle man gemeinsam mit der Stadt einen Schritt nach vorn machen. Dafür reiche schon ein Wechsel der Perspektive: Eine jüdische Vergangenheit sei kein Grund, den Kopf zu senken, sagt Blender. Ganz im Gegenteil: „Das kann ein sehr positives Aushängeschild für die Stadt sein. Darüber kann sie glücklich und stolz sein, es kann sie sogar berühmt machen.“ Zahlreiche Rückmeldungen aus anderen Ländern hätten das gezeigt. Ein Umriss für die alte Synagoge? Weitere Projekte der Gemeinde: Alle Schulen sollen mit Buchmaterial ausgestattet werden, etwa mit einem Standardwerk über jüdische Sprache, Alltag und Glaubensprinzipien. Weithin sichtbarer soll eine Menora, der typische siebenarmige Leuchter, aus Stahl werden. Er soll vor dem Gemeindezentrum aufgestellt werden. Ein Plan, den es schon länger gibt. Ein Herzensprojekt ist der trostlose Gedenkplatz an der Lübecker Straße. Dort, wo einst die alte Synagoge stand. Am liebsten würde die Gemeinde ihn umgestalten. Sichtbar machen, was dort war. Und zwar so, dass eine Art Umriss das alte Gebäude nachzeichnet. Es bleibt abzuwarten, ob die Politik da mitgeht. Blender: „Wir sind mit den Überlegungen noch ganz am Anfang. Aber was wir wissen: Das war ein wunderschönes Haus.“ Und wenn nicht in diesem Jahr, dann gibt es im kommenden Jahr wieder Anlass zur Diskussion. Dann ist die Einweihung der alten Synagoge nämlich genau 180 Jahre her. Von Irene Burow