Corona-Beschränkungen: Segeberger Kinder-Psychiater warnt vor Schäden

Keine Parties, kein Treffen mit Freunden, ein geschlossener Stadt-Jugendtreff und ein verriegeltes Jugendcafé, das Kinderhaus in der Südstadt ist dicht. Der Mannschaftssport in den Vereinen ruht komplett. Musikangebote werden eingeschläfert. Jugendliche müssen ihren Geburtstag ohne Freunde feiern. Verzichtet in der Pandemie eine ganze Generation auf ihre Jugend? Verlieren Jugendliche durch fehlende Freizeitangebote ihren sozialen Anschluss? Dr. Christoph Barchewitz, Bad Segeberger Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, schlägt mit Blick auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen Alarm. Zwar blieben im Gegensatz zum vergangenen Lockdown wenigstens Kindergärten und Schulen geöffnet. Dafür werde aber der ganze Freizeit-Aktivitäten-Bereich für Kinder von Musik bis Sport dicht gemacht. Alles das, was Kindsein ausmache, das Verlassen des Gewohnten, werde blockiert. „Kinder, die Lebenskraft haben, werden mürrisch und fahren ihre Motivation herunter.“ Wenn unterbunden werde, dass Kinder über Bewegung oder Musik lernen, „dann verkümmert ihre Entwicklung“. Die Bundesregierung hätte doch bei den Corona-Beschränkungen „wenigstens einen Bogen um Kinder und Jugendliche machen können“, moniert Barchewitz. Die Rücksichtslosigkeit gegenüber den Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern sei empörend. Da werde einfach drüber hinweg gegangen. „Es wäre wichtig gewesen, bis zur Volljährigkeit den gesamten Aktivitäts- und Freizeitbereich für Kinder zu erhalten.“ Wenn man den Vereinssport und Gruppenaktivitäten den Kindern wegnimmt, werde ihnen mindestens die Hälfte der Entwicklungschancen genommen. „Wir als Therapeuten haben jetzt nicht einmal die Möglichkeit, Kinder zu Pfadfindern, zum Karate oder anderen Vereinen zu schicken.“ Nur die mit massiver Mediennutzung heranwachsenden Kinder, die den Kontakt zur realen Welt aufgegeben haben, „blühen jetzt auf“. Jugend leidet unter Corona-Beschränkungen: Auch Thomas Minnerop, Leiter des Jugendbüros in Bad Segeberg, befürchtet, „dass die Jugendlichen jetzt auf der Strecke bleiben“. Er möchte jetzt Sprechzeiten unter Beachtung der Abstandsregeln anbieten, denn Kinder und Jugendliche sind bei Corona die Verlierer, wenn die ganzen außerschulischen Angebote dicht machen. „Dafür finde ich gerade jüngere Kinder erstaunlich ruhig, sie nehmen das einfach hin.“ Der Verein für Jugend- und Kulturarbeit im Kreis Segeberg (VJKA) hat seine Angebote heruntergefahren, Jugendtreffs verweisen auf Online-Angebote. Minnerop sieht hier einen deutlichen Widerspruch: „Eigentlich wollen wir die jungen Leute von den digitalen Geräte wegbekommen und jetzt animieren wir sie dazu, sich davorzuhängen.“ Auch Christoph Barchewitz empfindet so etwas als „hanebüchen“. Im Bad Segeberger Sozialausschuss brach es aus Mona Wagemann (Grüne), die im jetzt geschlossenen Jugendcafé hilft, heraus. Dieses zarte Pflänzchen Jugendcafé drohe jetzt wieder einzugehen. „Jetzt haben wir gerade die Jugendlichen nach dem letzten Lockdown wieder eingefangen, und nun ist schon wieder Schluss“, sagt Wagemann. Gerade in der Pandemie müsste der Kontakt gehalten werden. Sie fordert, dass die städtischen Streetworker nach Schließung des Jugendtreffs mehr „aufsuchende Jugendarbeit“ machen, die Heranwachsenden an den Bushaltestellen und im Hinterhof der Sparkasse ansprechen. Doch genau das scheint schon an den Arbeitszeiten der Sozialarbeiter zu scheitern. Denn wenn die Streetworkerin unterwegs ist – von 12 bis 17 Uhr – seien eher weniger Kids an den neuralgischen Punkten anzutreffen“, kritisiert Wagemann. Sie frage sich, warum aufsuchende Jugendarbeit nicht auch am Freitagabend oder an den Wochenenden stattfinde und nicht nur zu den üblichen Bürozeiten. Wochenenddienst sei nur in extremen Ausnahmefällen vorgesehen, entgegnet Amtsleiter Stephan Hartung knapp. Auch ein weiterer Streetworker, den die Stadt ab Dezember eingestellt habe, habe zwar eine Arbeitszeit von 39 Stunden, werde aber nur im Rahmen der üblichen Arbeitszeitordnung der Stadt eingesetzt. Es sei ja wohl kaum zumutbar, Streetworker am Sonnabend nachts um vier Uhr auf der Seepromenade einzusetzen, weil genau da Jugendliche unterwegs seien. Die Kollegen müssten sich alle an die Arbeitszeitordnung halten. Die jetzt wegbrechende Jugendarbeit werde besonders Jugendlichen mit familiären Problemen schaden, glaubt Minnerop. Beziehungsarbeit vor Ort finde nicht mehr statt. Minnerop: „Ich hoffe, der Schaden ist nicht zu groß. Für aufsuchende Jugendarbeit brauchen wir Personal.“ Durch fehlende Freizeitangebote können Jugendliche ihren sozialen Anschluss verlieren. Zum Beispiel droht in Vereinen der Mannschaftssport nun komplett einzubrechen. Schon im Lockdown zum Frühjahr waren bei den Jugendfußballern in manchen Altersklassen landesweit ein Viertel der Mannschaften „eingeschlafen“. Die Teams existierten nicht mehr. Da die Spiele, die Wettbewerbe fehlen, verliert der Vereinssport seine Attraktivität. Die Kids daddeln lieber vor dem Schirm. Trainer befürchten schon jetzt, dass das soziale Miteinander der Kinder leidet, wenn das Training wegen Corona jetzt komplett ausfallen muss. Ein Verlust der echten Begegnungen: Selbst der private Kick auf dem Spielplatz ist nur eingeschränkt erlaubt. Mama, Papa und ihre Kinder dürfen wohl schon gemeinsam Fußballspielen, aber die Freundin der Kinder darf nicht mitmachen. Unter dem Verlust der echten Begegnungen leiden ältere Jugendlichen offenbar weniger. Zusammenrücken in den Familien sei zum Bespiel bei Miles (18) und Joris (16) angesagt. Schon beim Lockdown im Frühjahr habe seine Familie „so oft Brettspiele gespielt wie noch nie“, erinnert sich Miles. Das Verhältnis zu den Eltern habe eher gewonnen, sagt auch Joris. Er helfe seinem Vater bei der Arbeit im Haus und zu den Gleichaltrigen halte er Kontakt über Chats. Doch die beiden geben zu, dass „wir da andere Möglichkeiten haben als Jüngere“. Diese würden unter den fehlenden Kontakten leiden. Von Wolfgang Glombik