Flucht von Syrien nach Segeberg: Jetzt will Mohamad Steuerberater werden

Jetzt heißt es warten. In einigen Tagen wird Mohamad den Bescheid von der Uni Hamburg bekommen. Wie seine Studienarbeit wohl bewertet wird? „Jetzt möchte ich einfach nur wissen, wie es ist, Langeweile zu haben“, sagt der 33-Jährige. Füße hochlegen, Fernsehen. Warten auf den Brief. Knapp sechs Jahre ist es her, dass er sich dazu entschieden hat, Syrien zu verlassen. „Ich habe sechs Jahre jeden Tag nur gelernt und gearbeitet“, sagt er. „Ich freue mich auf ein wenig Ruhe.“ Seine Bachelorarbeit hat er in den vergangenen Monaten zum Thema „Familienförderung im Steuergesetz“ geschrieben. Welche Vorteile gibt es mit Kindern, welche in der Ehe? „Einige meinen, es ist okay so. Andere finden die Gesetze diskriminierend“, sagt er. Vor allem Frauen kämen schlechter dabei weg, resümiert er in seiner wissenschaftlichen Arbeit. Als er damit fertig war, hat er eine bekannte Sprachwissenschaftlerin Korrektur lesen lassen. „Was Umgangssprache ist und was nicht, kann jemand wie ich nicht so gut unterscheiden.“ Bürgerkrieg, Schüsse und ein dunkler Frachtraum: Der junge Mann, der im Amt Itzstedt wohnt, spricht fließend deutsch. Manchmal so schnell, dass man genau zuhören muss, um kein Wort zu verpassen. Eher ungern fragen Flüchtlingshelfer die Menschen nach ihrer Vergangenheit. Denn sie wissen nie, was sie damit auslösen. Einfach ist es auch für Mohamad nicht. Doch in den vergangenen Jahren sei ihm viel Gutes passiert, sagt er. Mit etwas Abstand falle es leichter, über die Flucht zu sprechen. Bürgerkrieg zu Hause, Warnschüsse an der Grenze, die Fahrt übers Mittelmeer im dunklen Frachtraum – das ist jetzt über fünf Jahre her. „Ich wollte mich an diesem Krieg nicht beteiligen“: Damals konnte der Syrer nicht nachvollziehen, warum er bei seiner Ankunft in Deutschland keinen Job fand. Sein Abi-Schnitt liegt bei 1,9. In Syrien hat er erfolgreich Wirtschaft studiert. Da war der Häuserkampf in seiner Heimatstadt Damaskus bereits in vollem Gange. Rechtzeitig floh die Familie aus der umkämpften Zone an den Stadtrand. Später habe er in einem Video gesehen, wie sein Haus zerstört wurde. „Ich musste Syrien verlassen. Nach dem Studium wäre ich zur Wehrpflicht eingezogen worden“, erzählt Mohamad. „Doch ich wollte nicht an die Waffe. Ich wollte mich an diesem Krieg nicht beteiligen.“ Denn beim Bürgerkrieg, sagt er, gebe es keine Gewinner, egal für welche Seite man kämpfe. Mit seinen Freunden Wassim und Waleed wagt er die Flucht. Dass sie lebensgefährlich werden könnte, wissen sie. „Wir mussten das Risiko eingehen. Im Vergleich zum Krieg war es das geringere Übel.“ Am 1. September 2014 fahren sie los. Drei Monate sollte die Flucht dauern. Rund 6000 Euro zahlte jeder von ihnen an mehrere Schlepper. Menschenschmuggler bringen sie über die Grenze: Zunächst geht es mit dem Bus Richtung Norden zur türkischen Grenze. Menschenschmuggler bringen die Männer nachts über die Grenze. Beim ersten Mal feuern die Grenzposten Warnschüsse ab. Die Angst ist groß. Der zweite Versuch gelingt. Nach einem weiteren Tag im Bus erreichen sie Istanbul, lernen weitere Schleuser kennen. Immer wieder werden sie vertröstet mit ihrem Wunsch, nach Europa gebracht zu werden. Zwei Monate lang geht es nicht weiter. „Es wird viel gelogen, da war kein Verlass“, erzählt Mohamad. Sie schlagen sich durch bis an die Westküste. Denn je länger sie warten, desto kälter, desto gefährlicher wird es. Er erinnert sich noch genau an diese Tage. „Es war bereits sehr kalt. Dann diese vielen Menschen. Wir hatten immerzu Angst, von der Küstenwache entdeckt zu werden.“ „Wir fuhren in großer Dunkelheit“: Ein Fischerboot bringt die drei Freunde auf die offene See, dort steigen sie auf ein Containerschiff um. Mit hunderten anderen Flüchtlingen sitzen sie im Frachtraum. Ein einzelnes Loch ersetzt die Toilette für 500 Menschen. Zeitweise herrscht hoher Wellengang, die Menschen übergeben sich. „Es war eisig. Wir wussten weder, wie groß das Schiff ist, noch wie lange es dauern würde. Wir haben uns gefragt, wie wir wohl heraus kämen, sollten wir kentern. Die Wände neigten sich extrem“, sagt der Syrer. „Wir fuhren in großer Dunkelheit.“ Unter welcher Flagge der Containerriese fährt, weiß Mohamad nicht. Auch den Kapitän bekommt er nicht zu Gesicht. Zehn Tage dauert die Fahrt. Schließlich zerstört die Besatzung den Schiffsmotor. „Wir mussten gerettet werden“, weiß er heute. „Es war unfassbar, dass wir es geschafft hatten.“ Küstenwache und Hubschrauber bringen die Menschen nach Italien. Es ist der 19. November 2014. In München werden er und seine Freunde im Zug von der Bundespolizei erwischt. Sie werden nach Neumünster geschickt, schließlich in Segeberger Kommunen untergebracht. Niemand wollte einen syrischen Buchhalter: Der 33-Jährige darf bleiben. Denn seine Wurzeln liegen in Palestina. Zwar wurde er in Syrien geboren, doch das Land verwehrte der Familie die Staatsbürgerschaft. Er gilt als staatenlos. Asylpolitisch sei es für ihn von Vorteil gewesen, sagt er. In Deutschland angekommen hätte der 33-Jährige am liebsten sofort gearbeitet. Als Buchhalter oder Wirtschaftsprüfer. Doch niemand wollte ihn. Seine Bewerbungen waren vergebens. Doch er gab nicht auf. Viel ist passiert. Was wurde aus den Flüchtlingen? Wie viele sind auf den Arbeitsmarkt gelangt – und wie viele nicht? Sind die Ehrenamtler noch aktiv? Welche Auswirkungen hat Corona auf die Integration? Hat Segeberg die sogenannte „Flüchtlingswelle“ gut gemeistert? Darüber berichten wir in der Serie „Fünf Jahre Flüchtlingsherbst“ im Kreis Segeberg. Nicht einmal zwei Jahre später bestand der 33-Jährige den Sprachkurs auf C1-Niveau. Er absolvierte Praktika in einer Hamburger Anwaltskanzlei und in der Segeberger Kreisverwaltung – im Bereich Finanzen. „Da habe ich erkannt, wie groß die Unterschiede zwischen den Steuersystemen beider Länder sind.“ Und er entschied sich, das Studium zu wiederholen. Gleichzeitig begann er zu arbeiten, um es selbst zu finanzieren. Inzwischen hat er eine Festanstellung bei Saturn in Hamburg. Steuerberater: Das Ziel fest vor Augen: „Aber sie wissen dort, dass ich Steuerberater werden möchte“, sagt Mohamad und lächelt. Wenn er den Uni-Abschluss in der Tasche hat, will er sich bewerben. Mit dem nächsten Ziel genau vor Augen: vier Jahre in dem Beruf arbeiten. „Danach will ich mich zur Steuerberaterprüfung anmelden. Nur 40 Prozent bestehen diesen Test, man hat nur zwei Versuche“, weiß er. Doch er ist zuversichtlich. „Mit Lernen schafft man alles.“ Mit einer Arbeit und guten Sprachkenntnissen hat er inzwischen gute Voraussetzungen für die deutsche Staatsbürgerschaft. Der Antrag läuft, erzählt Mohamad. Auch dort wartet er gespannt auf Nachricht. Es wäre der erste Pass, den er je hätte. Lesen Sie auch: Flüchtlinge: Bilanz in Segeberg von 2015 bis 2020 Segeberger Tafel: Weiter ungebremster Zustrom an Flüchtlingen So organisierte das Ehrenamt die Flüchtlingshilfe Dozenten erzählen: Durch Sprache wächst die Persönlichkeit Von Irene Burow