Flüchtlinge: Bilanz in Segeberg seit 2015

Es war ein Kraftakt für viele Menschen: 2015 stieg die Zahl der Flüchtlinge extrem, Tausende kamen auch im Kreis Segeberg an. Bis zum Ende dieses Jahres wird sich die Zahl auf insgesamt rund 6000 Menschen summieren. Nun, fünf Jahre nach dem „Wir schaffen das“ von Bundeskanzlerin Angela Merkel, ist es nur noch ein Bruchteil. In den vergangenen vier Jahren sind die Zahlen stark gesunken. Für 2020 liegt die Prognose etwa bei 430 bis 450 Flüchtlingen, sagte Landrat Jan Peter Schröder jüngst im Kreishaus. Zuletzt waren es kaum mehr: 467 kamen 2017, 496 im Jahr danach und 436 in 2019. Zum Vergleich: In der Spitze wurden 2016 noch 1713 Personen durch das Land zugewiesen, 2015 waren es 2380. In all den Jahren kamen die Menschen hauptsächlich aus den vier Ländern Iran, Afghanistan, Irak und Syrien. Wie viele von ihnen nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder als asylberechtigt anerkannt wurden, wird in Segeberg nach Angaben der Kreisverwaltung statistisch nicht erfasst. „Unserer Kenntnis nach liegt die Anerkennungsquote in diesem Jahr bei ungefähr 40 Prozent“, teilt Kreissprecherin Sabrina Müller auf Anfrage mit. Hunderte reisten wieder aus: Zwischen 2016 und 2019 sind 515 Menschen aus Segeberg abgeschoben worden oder freiwillig wieder in ihr Heimatland ausgereist. Die Differenz ist also groß: „Es verbleibt ein wesentlich höherer Anteil, als durch das Bundesamt anerkannt wird“, sagt Müller. Nicht nur die Bereitschaft auszureisen sinke, auch seien die Herkunftsländer weniger bereit, ihre Bürger wieder aufzunehmen. „Die Zahl der Ausreisepflichtigen steigt bundesweit.“ Viele der Menschen, die hier ankommen, sind europäische Binnenflüchtlinge. Das bedeutet: Trotz negativen oder positiven Anerkennungsverfahrens in einem anderen EU-Staat sind sie weiter nach Deutschland geflohen. Flüchtlingsunterkunft in Warder soll verkauft werden: Die Flüchtlingsunterkunft in Warder ist mittlerweile geschlossen. Sie wurde diesen Sommer aufgelöst, der ehemalige Gasthof soll wieder verkauft werden. Als der Kreis die alte Gaststätte 2015 für 1,3 Millionen Euro erwerben wollte, hatte das in Rohlstorf für viel Unmut gesorgt. Mit viel Mühe ist mittlerweile für die letzten Verbliebenen Wohnraum gefunden worden. Mitte Oktober soll die Immobilie komplett mit allen Gebäuden und Nebengebäuden im Rahmen eines Bieterverfahrens veräußert werden. Kaufinteressenten müssen ein Konzept vorlegen, wie das Grundstück in Zukunft genutzt werden soll. Die Unterkunft in Schackendorf ist voll belegt und in Obhut eines Sicherheitsdienstes. Die Wohnungssuche bleibt weiter angespannt. Zuletzt musste der Kreis die Zügel anziehen und den Druck auf die Gemeinden erhöhen. „Damit haben wir die Kommunen nicht glücklich gemacht. Aber sie akzeptieren, dass der Weg nicht anders zu gehen ist“, sagt Landrat Schröder. Die Landesunterkunft im Levo-Park ist im Sommer reaktiviert worden, vor allem um in der Corona-Krise die anderen Unterkünfte in Boostedt und Neumünster zu entlasten. Am Anfang waren Erwartungen auf beiden Seiten: Die Flüchtlingszahlen sinken zwar, doch die Aufgaben sind intensiver geworden. Zuerst war da die Ankunft, begleitet von Euphorie und Erwartungen – auf beiden Seiten. Bringen Syrer, Irakis und Afghanen Fachkenntnisse mit, um den Fachkräftemangel auszugleichen? Bei den Geflüchteten gab es die Hoffnung, möglichst schnell ein Zuhause und Arbeit zu finden. Willkommenskultur und Orientierung standen im Vordergrund. Wie aus den Teams der Fachdienste für Integration und Asylangelegenheiten beim Kreis zu erfahren ist, erweiterte sich der Fokus 2017 – mit dem Rückgang der Flüchtlingszahlen – auf Strukturen. Arbeitsmarkt, Teilhabe und Integration wurden wichtiger. Aus Ehrenamtlern wurden Arbeitskräfte: Etliche Netzwerke haben sich gebildet und verstetigt. „Es ist gelungen, viele Hilfsangebote vom Ehrenamt ins Hauptamt zu überführen“, sagt Kreissprecherin Sabrina Müller. Beratungen privater und kirchlicher Träger seien etwa gelungene Beispiele, genauso wie Beratungsstellen für die Anerkennung von Bildungsabschlüssen. Nach fünf Jahren haben beide Seiten dazugelernt. Und es folgte die Erkenntnis: Integration ist komplex, jeder Fall ist anders. „Das ist seit 2015 besonders deutlich geworden“, sagt Müller. Beide Seiten mussten lernen, ihre Erwartungen anzupassen. „Das Bildungssystem in Deutschland ist sehr strukturiert und reglementiert. Die mitgebrachten Abschlüsse können nicht oder nur anteilig gleichgesetzt werden mit denen in Deutschland. Der Berufszugang ist damit entweder verschlossen oder nur mit Zusatzqualifikationen, einer Ausbildung oder einem Studium möglich.“ Kreis: Einwanderung ist kein neues Phänomen: Um tatsächlich anzukommen, braucht es Zeit. „Es ist wichtig, dass sich Organisationen und die Gesellschaft interkulturell öffnen und dass alle verstehen, dass Integration ein Prozess ist, der von allen Geduld, Toleranz und Ausdauer erfordert“, resümiert die Segeberger Kreisverwaltung. Unabhängig davon habe man es nicht mit einem neuen Phänomen zu tun. Denn Ein- und Auswanderung fänden immer statt und stellten keinen Sonderfall dar. „Laut statistischem Bundesamt hatte 2019 etwa ein Viertel der Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund. Das zeigt, dass unsere Gesellschaft immer vielfältiger wird. Die aufgebauten Strukturen sind ein sehr gutes Fundament, um dieser Vielfalt gerecht zu werden.“ Gegenwärtig gebe es neben der Integration zwei große Herausforderungen: Förderung und Erhalt des friedlichen Zusammenlebens. Gerade in der jetzigen Entwicklung müsse das mit aller Kraft fortgesetzt werden. Denn „ Rechtsextremisten, Islamisten, Antisemiten, Linksradikale und andere Ausrichtungen versuchen in unterschiedlicher Stärke, Dynamik und Präsenz, Einfluss auf das Zusammenleben der Gesellschaft, die demokratische Grundordnung und die Grundrechte zu nehmen“, sagt die Kreissprecherin. Nächster Teil: Ungebremster Zustrom an Flüchtlingen – Segeberger Tafel hat wieder Wartelisten Von Irene Burow