Geheime Graffiti in der Bad Segeberger Marienkirche

Gerade erst ist die Bad Segeberger Marienkirche in großen Teilen saniert und restauriert worden. Trotzdem finden sich in der ältesten Backsteinkirche des Nordens von 1156 Hunderte Graffiti und, nun ja, Schmierereien, wenn man es genau nimmt. Nur sind die meisten versteckt vor der Öffentlichkeit im großen 800 Jahre alten Turm und der Seitenkapelle von 1856. Denn über die hölzerne, steile Wendeltreppe dürfen schon lange keine Besucher mehr in den Turm geführt werden, da sie nicht mehr verkehrssicher ist. Kein Wunder, die Stiege ist mindestens so alt wie die Kapelle, also 164 Jahre. „Denn nach dem Bau der Kapelle hätte man den Baumstamm, um den sich die Stufen winden, nicht mehr hier hinein bekommen“, sagt Günther Gathemann, der Experte für die Bad Segeberger Marienkirche. Nur er, der Küster, Bauarbeiter oder natürlich die Pastoren kommen hier noch hinein. Graffiti sind historisches Zeugnis: Gathemann öffnet die Tür zur Kapelle und wenige Meter dahinter steht die Wendeltreppe. Sofort werden die ersten Graffiti sichtbar. Diese sind übrigens heute kein Ärgernis mehr und nicht vergleichbar mit Graffiti der Gegenwart, viel mehr sind sie sogar ein wunderbares historisches Zeugnis. „Hier ist ein schönes altes“, sagt Gathemann und zeigt auf eine kleine, schwarze Schrift auf der Rückseite einer Treppenstufe, die aussieht, als wäre sie mit einem Bleistift geschrieben. „1894 Hugo Nau“ steht dort in kunstvoll geschwungenen Lettern geschrieben. „Das waren die Konfirmanden“, so der Kirchenexperte. Früher war es Tradition, dass die Konfirmanden einmal mit dem Pastor den Turm hinaufgestiegen sind. Gathemann erklärt mit einem Schmunzeln: „Wenn der Pastor dann nicht aufgepasst oder freundlicherweise mit Absicht weggeguckt hat, haben sich die jungen Menschen verewigt.“ Tatsächlich, ein Conrad Kahl hat 1899 seine Unterschrift hinterlassen, sogar gleich zwei Mal, „K.H. Hamer aus Travental“ hat sich am 16.10.1950 verewigt. Es sind Dutzende Unterschriften und Initialen auf dem Treppenholz und an der Mauer. Ein Schrank als Poesiealbum: „Oben sind noch viel mehr“, sagt Gathemann, steigt die Treppe hinauf und gelangt durch einen meterdicken Backsteingang in den Kirchturm. Dort steht in einem uralten Schrank das frühere Uhrwerk der Kirchturmuhr. Es wird heute nicht mehr genutzt, ist aber noch voll funktionstüchtig. Die Wände des Schrankes sind übersät mit weiteren historischen Kritzeleien. Die ersten eingeritzten oder niedergeschriebenen Namen sind ungefähr von 1910. Gathemann lächelt: „Das Uhrwerk und der Schrank sind erst 1905 eingebaut worden und die ersten fünf Jahre hat sich wohl niemand getraut, weil alles so neu war.“ Dann geht es aber los. „O. Gabutz 19.9.1918“, „E. Kruse 5.2.39“, geschrieben offenbar mit einem Kreidestift, oder „H. Hübner 9.10.47“ stehen auf den Schrankwänden. Unterschriften bis in die 1970er Jahre: Insgesamt sind die ältesten Kennzeichnungen von Konfirmanden wohl aus den 1890er Jahren, die jüngsten aus den 1970er Jahren, alle hat noch niemand entdeckt oder gezählt. „In den 1970er Jahren sind die Jugendlichen wohl eingenordet worden, und es wurde stärker aufgepasst“, glaubt Gathemann. Trotzdem müssten in den fast 100 Jahren davor viel mehr junge Leute hier oben gewesen sein, als es Unterschriften gibt. Für Gathemann ist das leicht erklärbar. „Es war damals nicht selbstverständlich, dass jeder einen eigenen Schreibstift dabei hatte.“ Handwerker hinterlassen ihre Namen: Doch es sind nicht nur die Jugendlichen, die sich in der Marienkirche verewigt haben. „Oh, was haben wir denn da. Das entdecke ich ja auch zum ersten Mal“, ruft Gathemann und weist auf eine kunstvolle, verzierte Schrift in einem alten Balken hin, deren Text jedoch nur schwer zu entziffern ist. „Das muss ich noch mal fotografieren, das ist mit einem feinen Schnitzwerkzeug gefertigt worden“, so der Experte. Vermutlich von einem Handwerker, denn das ist die zweite Gruppe, die sich traditionell über die Jahrhunderte mit ihrem Namen verewigt. Zu unterscheiden sind die Unterschriften von denen der Konfirmanden meist nur dadurch, dass das Gewerk, also Maurer, Dachdecker oder Zimmermann dahinter steht. Unter den Handwerkernamen findet sich auch so etwas wie der „Erfinder des heutigen Graffiti“, denn ein Klempner hat es am 28.4.1948 tatsächlich geschafft seinen Namen über die Länge von einem ganzen Dachbalken in riesigen pechschwarzen Buchstaben zu schreiben. Das geht dann als einziges tatsächlich als „Schmiererei“ im heutigen Sinne durch. . . Von Sven Wehde