Jüdische Segeberger Familie Kosiner überlebt Faschismus

Bad Segeberg soll etwa zehn weitere Stolpersteine bekommen. Vielleicht auch mehr. Im kommenden März wird der Künstler und Ideengeber der Plaketten aus Bronze, Gunter Demnig, dazu in die Stadt kommen. Denn er war lange nicht da: Bereits ein Jahrzehnt ist es her, dass in Bad Segeberg die ersten Erinnerungssteine verlegt wurden. Zehn Steine entstanden zwischen 2009 und 2011. „Seitdem ist nichts passiert“, sagt Axel Winkler. Der Heimathistoriker setzt sich dafür ein, dass sich das ändert. Denn in der Stadtgeschichte ist noch Vieles nicht aufgearbeitet. Nun haben sich mehrere Sponsoren gemeldet. Die Stolpersteine kommen. Die entsprechenden Geschichten hinter den Schicksalen der ermordeten Segeberger hat Winkler dafür in einem Buch zusammengetragen. Schon fast war er fertig mit seinen düsteren Recherchen. „Ich musste zwischendurch schon mal einen Krimi lesen, um mich abzulenken“, sagt er. Ablenken von dem Grauen, das auch Segeberger Juden während des Zweiten Weltkrieges erleben mussten. Nur wenige Segeberger Juden überlebten: Doch dann war da ein Lichtblick. Nämlich das kleine Mädchen Ruth, das überlebte. Mitsamt ihren Eltern. Eine absolute Ausnahme: „Die, die einmal in die Fänge der Nazis gekommen sind, wurden alle umgebracht“, sagt Winkler. „Ich kannte bisher keinen außer Jean Labowsky, der überlebt hat.“ 2007 wurde nach ihm der Verbindungsweg zur Jüdischen Gemeinde benannt. Wie die LN damals schrieben, überlebte der „spätere Stadtdirektor als einziger Segeberger Jude die Nazidiktatur in der eigenen Stadt“. Dieser Fakt ist nun überholt. Durch vorangegangene Bücher und Kontakte bekam Winkler eine Adresse in New York. „Dorthin sollte eine Segebergerin ausgewandert sein, die 1934 eine Tochter bekam“ – mehr wusste Winkler zunächst nicht, schrieb in diesem Frühjahr einen Brief. Und hatte Glück: Das Mädchen von einst lebt. Ruth Rosenthal ist heute 85 Jahre alt. „Sie hat mir Stück für Stück erzählt, woran sie sich sicher erinnern konnte“, so der Historiker. „So einfach war das nicht. Schließlich war sie damals acht bis zehn Jahre alt. Und es waren natürlich Fragen übelster Art, ein Stück verdrängte Lebensgeschichte.“ Das Buch „Das Mädchen im Koffer“ von Axel Winkler hat 192 Seiten. Es ist für 20 Euro im „Druckwerk“ und im „Buch am Markt“ zu haben. 150 Exemplare wurden gedruckt. Winkler hat drei Jahre lang unzählige Fakten zusammengetragen. Im Buch lässt er die Bad Segebergerin Lea Kosiner während ihrer Überfahrt von Bremerhaven nach New York im Jahr 1946 von ihren Segeberger Bekannten erzählen. Rund 30 Porträts sind entstanden. Die Idee mit dem Koffer: Was sich Winkler offenbarte, ist kaum zu glauben, und doch hat es sich so zugetragen. Denn Ruth, die Tochter der Bad Segebergerin Lea Kosiner (geb. Beer) und des Leipzigers Alfred Kosiners, überlebte in einem Koffer. Im Zuge der sogenannten Polenaktion wurde die Familie 1938 ins polnische Bedzin gebracht, nur 40 Kilometer vom Vernichtungslager Auschwitz entfernt. Ein Jahr später sah sich die Familie Beer zum letzten Mal. Wer nicht ausreisen konnte, wurde ermordet. Die Kosiners lebten in permanenter Todesangst. Als 1943 die nächste Welle der Deportationen losbrach, kam dem Vater eine Idee. Denn er hatte an seinem Arbeitsplatz eine junge Frau beobachtet, die jüdische Beschäftigte mit Essen versorgte. Sie zeigte sich offen. Jener Margarete Löhrke, die nur Grete genannt wurde und auch in Berlin wohnte, sandte er wenig später einen Koffer. Der Inhalt: Seine Tochter Ruth. Er schleppte das Mädchen in dem engen Versteck, versehen mit Luftlöchern, zum Postamt und adressierte den Koffer an Grete. „Das Mädchen konnte so bis 1945 perfekt als Edith Friedrich getarnt werden“, sagt Axel Winkler. Die Eltern überlebten mehrere Arbeits- und Konzentrationslager. Die Familie fand sich nur wieder, weil der Vater Alfred sich die Berliner Adresse von Grete gemerkt hatte, später blind hinfuhr, und seine Tochter dort in die Arme schloss. Von dort reisten die drei 1946 nach Amerika aus. Ausstellung am Markt geplant: „Die Geschichte ist faszinierend“, sagt Winkler. „Ruth hat mich richtig motiviert. Auf einmal waren es nicht mehr durchweg qualvolle Geschichten.“ Denn letztlich hat Dutzende in seinem neuen Buch „Das Mädchen im Koffer – Leben und Leiden Segeberger Juden“ zusammengetragen. Von Juden, die bereits Stolpersteine in Bad Segeberg haben, wie Friedrike Levin oder Cäcilie Heilbronn. Von jenen, die in anderen Orten Erinnerungssteine bekommen haben, wie Familie Beer in Quakenbrück und Familie Baruch in Hamburg. Und dann sind da noch die, an die bisher kein Stolperstein erinnert, wie Emil Selig, die vier Geschwister Levy oder auch Lea Kosiner. „Sie wurde in der ehemaligen Synagoge geboren. Ich möchte unbedingt, dass sie auch einen Stein bekommt“, so Winkler. Entstehen soll in Kürze eine Ausstellung mit den Portraits. Bewährt habe sich der Marktplatz. Daher sucht der Historiker Geschäfte, die eine Patenschaft in Form von Schaufenstern übernehmen. Die Tafeln sollen von Mitte Oktober bis Mitte November zu sehen sein. Derweil recherchieren Schüler der Dahlmannschule weitere Einzelheiten, um eine kompakte Broschüre zum Thema Stolpersteine in Bad Segeberg zu erarbeiten. Von Irene Burow