Lost Places: Die "Oase" in Steinbek - Bordell, Kommune, Nazi-Quartier

Wer auf der A 20 in Richtung Bad Segeberg fährt, kann es kurz vor dem Rastplatz Kronberg sehen: Ein altes, wettergegerbtes Haus, dessen Dachziegel teilweise schon heruntergefallen sind. Die Fenster sind mit Brettern vernagelt, die rot und grau schimmernden Ziegelsteine sind an manchen Stellen herausgebrochen. Vertrauenserweckend sieht das Gebäude, das eine Wandlung von der biederen Bahnhofsgaststätte zum Bordellbetrieb hinter sich hat, schon lange nicht mehr aus und doch geht von ihm eine Faszination aus – die Anziehungskraft eines „Lost Places“. Die Lübecker Nachrichten haben sich auf Spurensuche begeben. Nahezu jeder in der Umgebung von Steinbek kennt das Haus, über dem immer noch der Hauch des Verrufenen schwebt und das als „Oase“ in die Heimatgeschichte eingegangen ist. Dabei war das Ansinnen des Geschendorfer Zimmermanns Ferdinand Steer, der das 2055 Quadratmeter große Grundstück 1921 in Steinbek gekauft hat, ein ganz bürgerliches: Zwischen der Lübecker Landstraße und dem Bahnhof der 1916 eröffneten Lübeck-Segeberger Kleinbahn baute er eine Bahnhofsgaststätte mit Fremdenzimmern und Kegelbahn. Betrieben wurde sie von verschiedenen Pächtern. Ein Haus mit bewegter Vergangenheit: 1935 wurde die „Oase“ zu einem Landjahrlager der Hitler-Jugend, nach dem Krieg zu einer Flüchtlingsunterkunft. Von 1949 bis 1953 wurden dort landwirtschaftliche Maschinen untergestellt. Nach einer umfassenden Renovierung im Jahr 1956 kaufte der Geschendorfer Manfred Strich den Gasthof, von dem fortan in Neon-Buchstaben der Name „Oase“ in die Landschaft strahlte. Mit Tanzveranstaltungen hauchte er dem Gasthof neues Leben ein. Während der Bauarbeiten für die Bundesstraße 206 nutzten Bauarbeiter die Fremdenzimmer und der Sportplatz wurde zum Parkplatz für Baumaschinen. 1966 wurde die B 206 für den Verkehr freigegeben, die Lübecker Landstraße diente fortan nur noch der Dörferverbindung. Danach wurde es ruhig in der „Oase“. 1935 begann die braune Vergangenheit der „Oase“, die von den Nationalsozialisten als Landjahrlager für die Hitler-Jugend genutzt wurde. In der Durchfahrt wurde ein Schlafsaal für 60 Jungen und im angrenzenden Pferdestall ein Waschraum eingerichtet. Disziplin stand ganz oben auf dem Tagesplan der Jungen, die nicht nur im Gleichschritt marschieren lernten, sondern auch im Umgang mit dem Arbeitsspaten gedrillt wurden. Ihre eigentliche Aufgabe aber war es, den zugeteilten Bauern zu helfen. Ihr Arbeitsdienst aber ging noch weiter. So errichteten die Lagerjungen ein Freibad, das vorrangig der Hitler-Jugend des Kreises Segeberg, dem Landjahrlager und den Schulen der Gemeinden Weede, Steinbek, Söhren Geschendorf, Strukdorf, Goldenbek und Westerrade zur Verfügung stand. 1941 wurde das Jungen- in ein Mädchenlager umfunktioniert. Die Mädchen schliefen nachts im Schlafsaal, während sie tagsüber bis 1943 ihr Pflichtjahr bei den umliegenden Bauern ableisteten. Nach Kriegsende wurden alle Räume für die Unterbringung von Flüchtlingen gebraucht. Teilweise lebten zehn Familien auf engstem Raum im ehemaligen Gaststättengebäude. 1968 brannte die Durchfahrt, das Schwimmbad war längst kaputtgefroren und wieder verfüllt, und auch die Kleinbahn hatte ihren Betrieb eingestellt. Dann kam die „Oase“ in Verruf, dem Rotlichtmilieu mit leichten Mädchen und schweren Jungs anzugehören. Wie in der Chronik von Geschendorf nachzulesen ist, haben dort Großrazzien stattgefunden, nicht nur unten in den Schrankräumen, sondern auch den kurzzeitig vermieteten Zimmern im Obergeschoss sollen die Polizeibeamten ihre ganze Aufmerksamkeit gewidmet haben. Anfang der 70er Jahre wurde der Schankbetrieb eingestellt. Die zwischenzeitlich zu einem Wohnhaus umgebaute „Oase“ verfiel immer mehr, so dass auch die letzten Mieter das Weite suchten. Die „Oase“ als Hippie-Kommune: Danach begann die wohl kurioseste Zeit der „Oase“, die innen wie außen jedes Jahr mehr zur Ruine verfiel. Obdachlose nutzten die leerstehenden Räume zum Übernachten, auch ein Lübecker Motorradclub fand dort für kurze Zeit einen Unterschlupf. „In den 80er Jahren lebten dort mehrere Hippie-Familien. Die waren immer gut gelaunt und nett waren sie auch“, denkt Otto Westphal zurück, der auf einer Koppel hinter der „Oase“ Pferde stehen hatte und dadurch jeden Tag an der Kommune vorbeikam. „Oameisen“ nannten sich die Bewohner. „Wenn Badetag ausgerufen wurde, haben sie mit Feuer eine große Wanne erhitzt. Wie Gott sie geschaffen hat, sind dann alle ab ins Wasser. Das Freibad war zu der Zeit ja leider schon nicht mehr brauchbar.“ Eine Begegnung der besonderen Art hatte Otto Westphal allerdings auf seiner Pferdekoppel: „Dort lag ein großer Heuhaufen. Als ich näher kam, habe ich bemerkt, dass sich das Heu bewegte. Zwei junge Leute lagen darin und ließen es sich gut gehen.“ Lesen Sie dazu: Lost Places: Eine Fabrik in Pronstorf ist seit Jahrzehnten im Dornröschenschlaf ... als Stall für eine Ziegenherde: Auch eine Ziegenherde fand Gefallen an der „Oase“. „Die Tiere liefen eigentlich überall herum und haben sich natürlich gefreut, dass sie ein Dach über dem Kopf hatten. Betreten konnte man das Gebäude danach nicht mehr. Irgendwann kam das Ordnungsamt und hat die Ziegen abgeholt. Eine allerdings ist ausgebüxt. Wir haben sie noch jahrelang in Steinbek gesehen, bis sie wahrscheinlich gestorben ist“, vermutet Otto Westphal. Das Haus verfiel immer weiter, das Grundstück glich einer großen Müllhalde und wurde zum Ärgernis. Deshalb war die Gemeinde froh, als 1996 Martin Jung aus Altengörs Haus und Grundstück kaufte. Er hatte mit dem Gebäude noch viel vor, hatte nach dem Kauf aber mit gesundheitlichen und finanziellen Problemen zu kämpfen. „Inzwischen geht es zwar wieder bergauf, aber jünger bin ich schließlich nicht geworden. Wie die Zukunft für die ,Oase’ aussieht, weiß ich noch nicht“, sagte Martin Jung, der während all der Jahre Sicherungsmaßnahmen für das Gebäude ergriffen haben will. Jung: „Sonst wäre es schon längst zusammengebrochen.“ Schwer beschädigt wurde die „Oase“ bei einem Verkehrsunfall Anfang der 2000er Jahre. Ein alter Golf mit zwei jungen Männern steckte bis zur Windschutzscheibe im Kellerfenster und hatte Teile des Mauerwerks mitgerissen. Beide Männer mussten schwer verletzt mit Hubschraubern nach Kiel und Lübeck geflogen werden. Lesen Sie dazu: Lost Places: Kindheitserinnerungen an die alte Wache im Segeberger Forst ... und sogar als Werbeobjekt: Was viele nicht wissen: Sogar in einem Werbespot soll die „Oase“ zu sehen gewesen sein. „Es war von einem schwedischen Reiseunternehmen nach dem Motto: Hätten Sie mal mit uns gebucht. Das gab es sogar auf der Videoplattform YouTube“, erzählt Martin Jung, der natürlich über „Lost-Places-Fans“ gar nicht glücklich ist. „Erst kürzlich sind hier welche eingebrochen, um Fotos zu machen. Die Hunde hatten angefangen zu bellen. Als ich nachsah, haben sie die Beine in die Hand genommen und sind über das Feld in Richtung Autobahn gerannt. Die Polizei konnte sie stellen.“ Lesen Sie auch Lost Places: Kindheitserinnerungen an die alte Wache im Segeberger Forst Von Petra Dreu