Paradox: Kino nur noch im Auto, aber Klassen mit 28 Schülern

Als die Nachricht von Bildungsministerin Karin Prien (CDU) am Mittwoch aufploppte, dass am 8. Juni die Grundschulen wieder komplett für die tägliche Beschulung im Klassenverband zu öffnen seien, habe man an der Bad Segeberger Franz-Claudius-Schule erst an die Sendung „Versteckte Kamera“ gedacht. So überrascht war man, berichtet Lehrer Axel Winkler den LN. Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) warnte vor einem „vorschnellen Überbordschmeißen“ sämtlicher Vorsichtsmaßnahmen. Je größer die Lerngruppe in der Schule sei, desto größer die Gefahr für die Gesundheit der Pädagoginnen und Pädagogen. Gerade unter den älteren Kolleginnen und Kollegen werde darüber jetzt diskutiert. Die meisten hielten die Pläne der Landesregierung für verfrüht. Bis jetzt sei Schleswig-Holstein sehr besonnen gewesen, sagt Axel Winkler, der mit 64 Jahren zu den älteren Pädagogen an der Franz-Claudius-Schule zählt. „Jetzt wetteifern wir mit Sachsen um die Vorreiterrolle bei der Öffnung der Schulen.“ In Grundschulklassen sind Abstände nicht einzuhalten: Er halte das auch als erfahrener Lehrer für nicht durchdacht. Es seien dann nur noch drei Wochen Schulzeit bis zu Ferien. Was diese drei Wochen jetzt „als Risikofaktor“ bedeuteten, sei noch gar nicht auszudenken. „Wir haben bei uns an der Schule bis zu 28 Schüler in einem Klassenraum.“ In der Stadt werde wegen der Corona-Pandemie Autokino veranstaltet, in den Restaurants würden Tische auseinandergerückt, in einige Museen dürften nur sechs Personen gleichzeitig – „aber in unseren Schulen sind jetzt Abstände gar nicht mehr einzuhalten“. Für den Pädagogen ist es auch gar nicht möglich – wie von der Ministerin gewünscht – Erstklässler vom Toben in der Pause abzuhalten. „Das ist völlig unrealistisch, gerade bei Grundschülern.“ Auch sei es völlig unklar, wie man bei 15 Klassen an seiner Schule unterschiedliche Pausenzeiten organisieren könne, damit sich die Lerngruppen auf dem Schulhof nicht begegneten. Das LN Corona-Update als Newsletter Alle News zum Coronavirus in Lübeck dienstags bis samstags gegen 7 Uhr im E-Mail-Postfach Winkler: „Wir haben an unserer Schule mehrere Kolleginnen, die über 60 Jahre alt sind.“ Wenn sich diese und die Kollegen mit Vorerkrankungen ein Attest vom Arzt holen würden, sei ein Unterricht gar nicht mehr möglich. Er selbst werde aber auch an einer vollen Schule weiterhin unterrichten. Kurios sei aber auch, dass die Lehrkräfte im Kollegium nicht einmal Konferenzen abhalten dürften, nicht einmal in einer Turnhalle – aber „wir quetschen 28 Kinder in eine Klasse“. Zwei-Schichten-Modell für Schulunterricht: Axel Winkler lehnt den Spruch von der „verlorenen Generation“ ab. „Ein Kind, das in einem guten Umfeld aufwächst, wird durch die reduzierte Unterrichtszeit keine Nachteile haben.“ Winkler schlägt ein Modell vor, in dem man die Klassen aufteilt und die Gruppen täglich jeweils die ersten drei und drei letzten Schulstunden unterrichte. Damit wäre die Bedingung der Ministerin erfüllt, die Schüler hätten alle täglich Präsenz-Unterricht. So ein Zwei-Schichten-Modell hätte man schon früher einführen können, ist Winkler überzeugt. Das dürfe auch nicht an fehlenden Raumpflegerinnen scheitern, die die Klassenräume nach jeder Lerngruppe desinfizieren müssen. Winkler: „So oder so, wir werden uns über diese drei Wochen bis zu den Ferien hangeln“. Von Wolfgang Glombik

Paradoxe Corona-Welt in Segeberg: - „Wir quetschen 28 Kinder in eine Klasse“