Prozess tödlicher Radunfall in Kisdorf: Rentner darf Führerschein behalten

Dass der Rentner eine elfjährige Radfahrerin bei seinem Abbiegemanöver in Kisdorf fahrlässig getötet hat, daran bestand am Freitag im Gerichtssaal kein Zweifel. Der schwere Unfall hätte vermieden werden können. „Sie haben als Autofahrer versagt“, sagte Richter Aykut Tuncel. „Sie haben irgendwo hingeguckt, nur nicht dahin, wohin Sie gefahren sind. Dadurch haben Sie ein junges Leben ausgelöscht.“ Entsprechend schuldig gesprochen wurde der Segeberger, zudem muss er eine Geldstrafe von 23 400 Euro zahlen. Der Angeklagte hatte zuvor gestanden, das Mädchen übersehen zu haben. Er wandte sich direkt an die Familie und entschuldigte sich: „Ich leide mit Ihnen. Jede Unbeschwertheit und jedes Lachen sind aus meinem Leben verschwunden. Das wird mich Zeit meines Lebens begleiten.“ Wie er schilderte, war er die Strecke zuvor tausende Male gefahren. An jenem Tag Ende Oktober 2019 sei ihm die Sicht durch einen Transporter versperrt gewesen. Er habe beim Abbiegen nach rechts in den Mühlenredder den Schulterblick angewandt. „Dass mir die Mädchen von vorn entgegenkamen, habe ich nicht gesehen.“ Schwester schilderte tapfer die Ereignisse: Der Senior war nicht schneller als 20 Stundenkilometer gefahren. Doch dem SUV war nichts entgegenzusetzen, das Mädchen starb noch an der Unfallstelle. Es war mit seiner Schwester auf dem Nachhauseweg von der Schule gewesen. Die Familie wirkte im Gerichtssaal gefasst. Die Schwester hat auf beeindruckend tapfere Art geschildert, wie sie die furchtbaren Momente erlebt hat. Sie hatte den Blick gerade woanders, hörte einen lauten Knall und sah dann – nichts mehr. Lesen Sie auch: Kisdorfer Initiative fordert generelles Tempo-30-Limit „Ich habe nur gedacht, wo ist meine Schwester. Sie kann doch so schnell nicht weg sein?“, berichtete die 14-Jährige. Sie schaute nach ihr, versuchte noch, sie wiederzubeleben. Dann riss sie die Fahrertür auf, forderte den Mann auf, den Notruf zu wählen. Doch der habe das Lenkrad festgehalten und nicht reagiert. Sie sei zur Orientierung zum Straßenschild gelaufen und habe das Telefongespräch übernommen. „Ich habe mich hilflos gefühlt, dass ich das alles allein machen muss“, schilderte das Mädchen. „Der Rettungswagen kam lange nicht. Erst nach 15 Minuten, erst nach meiner Mutter.“ Bei Gericht ließ sie auch ihrer Wut freien Lauf. „Er saß die komplette Zeit im Auto. Ich habe alle Bilder im Kopf.“ Sie sah den Angeklagten direkt an: „Sie haben meine Schwester getötet.“ Angeklagter hat drei Sekunden Reaktionszeit nicht genutzt: Um das Unglück rein technisch zu verstehen, hat ein Sachverständiger das Geschehen rekonstruiert. Er bestätigte mit seinen Details, dass die Reaktionszeit ausgereicht hätte, das Auto rechtzeitig zu bremsen – selbst unter bestmöglichen Bedingungen für den Angeklagten. Demnach hatte er drei Sekunden Zeit. Erst mit dem Zusammenstoß begann der Bremsvorgang, erklärte Gutachter Julian Jorde von der Dekra. Drängender als die Schuldfrage war für das Gericht die Klärung: Ist ein solcher Unfalltod beispielhaft für das Versagen am Steuer im hohen Alter? „Das Reaktionsvermögen war tödlich unzureichend“, sagte Staatsanwältin Ina Nentwig und plädierte auf Führerscheinentzug. „ Alle fragen sich, ob der Mann nicht zu alt zum Autofahren ist, nur der Angeklagte nicht.“ „Wir sind Richter, aber wir sind auch Väter“: Nach Ansicht des Gerichts könne das aber nicht pauschalisiert werden. „Es steht nicht im Gesetz, dass jeder, der fahrlässig tötet, den Führerschein abgeben muss. Der Einzelfall ist zu prüfen“, sagte Richter Tuncel. Eine besondere Rücksichtslosigkeit sei in diesem Fall nicht zum Ausdruck gekommen. „Das ist der Maßstab, an den ich mich gebunden fühle.“ Man dürfe sich nicht allein vom Alter leiten lassen, so tragisch das sei. Dabei sprach er sehr einfühlsam. „Wir sind Richter, aber wir sind auch Familienväter. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie dieser Verlust je kompensiert werden kann. Keine Strafe der Welt holt das Mädchen zurück.“ Erst im August war eine 80-jährige Autofahrerin, die in Bornhöved zwei E-Biker tödlich verletzt hatte, im gleichen Saal in Bad Segeberg wegen fahrlässiger Tötung verurteilt und ihr war der Führerschein entzogen worden. Das Landgericht milderte das Urteil im Oktober aber ab – die Fahrerlaubnis bleibt. „Ich sehe es anders als das Landgericht“, sagte Richter Tuncel und sprach so, als hätte er in seinem Prozess gern anders geurteilt. Eindringlich appellierte er an den Angeklagten, genauso wie die Staatsanwältin und Nebenklägervertreter Horst Schumacher, den Führerschein freiwillig abzugeben – zum Schutz der Allgemeinheit. „Sie haben drei Sekunden nicht reagiert, was muss noch passieren?“ Von Irene Burow