Spielwaren von Victor Boehm Bad Segeberg: Ära geht weiter

Die Spieluhr läuft noch. Zuletzt spielte sie etwas langsamer, vielleicht auch mehr im Charme vergangener Jahrzehnte. Doch der Ton wird nicht verstummen: Es ist die vielleicht schönste Nachricht für jene Segeberger, die schon als Kinder ihre Nasen am Schaufenster des Spielwarenladens Victor Boehm platt drückten. Und für jene, die noch immer Rennautos für ihre Enkelkinder kaufen, oder Teile für die eigene Modelleisenbahn. Das Geschäft Victor Boehm in der Oldesloer Straße 27 bleibt bestehen. Die Spieluhr wird neu aufgezogen. Eine Institution: „Jeder Segeberger war hier drin“: Die Firma Boehm gehört zu ältesten inhabergeführten Geschäften in Bad Segeberg. Dass das so bleibt, hätte Marion Boehm bis zum Frühjahr nicht gedacht. Denn die zuletzt älteste Inhaberin, ihre Mutter Marianne, ist im April verstorben. Auch mit ihren 85 Jahren stand sie noch hinter dem langen Verkaufstresen. Jetzt, einige Monate später, ist es für Tochter Marion Boehm wie eine Art Zeitreise, wenn sie Kisten öffnet, in die Historie schaut, Regale verschiebt. „Zu ihren Lebzeiten hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass der Laden weiter existiert“, sagt sie. Doch gemeinsam mit Marcus Grünewald, einem Freund der Familie, will sie das Geschäft nicht nur weiterführen, sondern auch in die Gegenwart bringen. Mit Webseite und Online-Handel, Werkstatt und neuen Warengruppen. Schritt für Schritt. Und dazu gehört auch der Blick zurück. „Die Menschen haben sogar aus ihren Ferien geschrieben. Es gibt wahnsinnig viel Fanpost“, sagt Marion Boehm. Die Briefe kamen aus Amerika, aus Afrika, aus Skandinavien. Und sie standen oft in Verbindung mit den Karl-May-Spielen. Kunden schätzten Werte von Marianne Boehm: „Irgendwann nehme ich hier noch mal Eintritt“, hatte Marianne Boehm so manches Mal gesagt. Es war ein Kommen und Gehen in dem Geschäft für technische Spielwaren. Touristen deckten sich ein, Einheimische hatten spezielle Fragen. „Jeder Segeberger war hier drin“, ist Marion Boehm sich sicher. Und welche Regeln im Laden gelten, daran hat ihre Mutter die Kunden stets erinnert. „Geguckt wird nur mit den Augen“ oder „Das ist hier kein Supermarkt“, machte sie klar. Ein Schild im Regal hat daher mittlerweile nostalgischen Wert: „Keine Selbstbedienung“. „So streng sie sein konnte, so liebevoll und verbindlich war sie aber auch“, erzählt ihre Tochter. Jahrzehnte an Erfahrung sprachen da mit. 1899 wurde das Geschäft in Danzig von Urgroßvater Max Boehm gegründet. Die Familie lebte gut bürgerlich im gehobenen Mittelstand, die Firma gedieh. Der Zweite Weltkrieg und die Flucht zwangen Sohn Victor 1945 zur Aufgabe. Doch noch im gleichen Jahr baute er sein Geschäft in Bad Segeberg wieder auf, zusammen mit seiner Frau Erna. Diese war zuvor mit den drei Töchtern zwei Jahre in einem dänischen Flüchtlingslager, dann auf Bauernhöfen in Süddeutschland und kam 1948 nach Bad Segeberg. Die Familie war wieder vereint. 121 Jahre Boehm: Von Krankenhaus-Technik zu Spielwaren: Lag der Fokus in Danzig noch auf optischen Geräten für Krankenhäuser und Arztpraxen, ging es nun mit Radio-Elektronik und Fernsehtechnik weiter. Spätestens mit dem Tod Victors 1971 gab es technische Spielwaren – bis heute. Wohl auch der Krieg sorgte für eine starke familiäre Bande. Dieser Geist sollte sich auf die Töchter übertragen. „Die Großväter haben den Anfang gemacht. Aber die Frauen waren es, die den Laden aufrecht erhalten haben. Meine Großmutter Erna war die Patronin und richtunggebend“, erzählt Marion Boehm (54), Grafikdesignerin in Hamburg. 1983 kaufte die Familie das Haus in der Oldesloer Straße 27. Und die Frauen bauten es fast in Eigenregie um. Denn als Höhere Knabenschule, Sitz des Roten Kreuzes, der SPD, Gewerkschaft und auch der Lübecker Nachrichten, als Flüchtlingsunterkunft und Stadtbücherei hatte es innerhalb von hundert Jahren eine durchaus bewegte Geschichte. An die Geschäftsfrauen, Erna mit ihren Töchtern Eva und Marianne Boehm, erinnern noch Zeitungsberichte aus den 90er Jahren. Nämlich zu der Zeit, als diese Ära sich langsam dem Ende neigte. Seit 1998 – und noch 22 Jahre bis zum Frühjahr 2020 – führte letztere den Betrieb allein fort. Analoges Geschäft wird digitaler: „Das Einzelhändlerleben war nicht meins“, sagt Marion Boehm und schmunzelt. Und doch steigt sie nun kreativ mit ein. „Meine Mutter war nicht auf kommerziellen Profit aus. Sie wollte nicht verkaufen, sie wollte eher beraten.“ Doch es war dieser Beratungsethos, der die Kundschaft immer wiederkehren ließ. Die Leute dankten ihr die kaufmännische, klare, aufrichtige Art. „Die Leute haben sie gemocht bis hin zur Verehrung. Für die Person, die sie war, und für welche Werte sie stand.“ Dass sich das bis in die Gegenwart zog, sei Fluch und Segen zugleich gewesen. Denn im Kern veränderte sich nichts – doch außen umso mehr. „Sie war so analog, wie man nur sein kann. Je größer das Internet wurde, desto größer wurde auch die Enttäuschung“, sagt Marion Boehm. Der gute Kontakt zu den Kunden soll bleiben und besser werden: Dazu ist im Fachgeschäft Victor Boehm unter anderem eine Tombola gestartet. Denn Weihnachten ist nicht mehr weit. Jeder kann mitmachen: Ein kostenloser Loszettel kann im Geschäft in der Oldesloer Straße 27 ausgefüllt und in die Sammelbox geworfen werden. Gezogen wird an den Adventswochenenden. Die Verlosung läuft bis 23. Dezember. Zu gewinnen gibt es zum Beispiel eine Märklin-Lok, eine Carrera-Bahn, Modellbausätze oder eine Dampfmaschine. Die wirtschaftlichen Gesichtspunkte rücken nun in den Fokus. „Wir möchten die Atmosphäre so gut es geht erhalten“, sagt der neue Inhaber Marcus Grünewald. Im Geschäft wird renoviert, aber das Mobiliar bleibt. Mehr Ware soll aus dem Lager nach vorn. Die Werkstatt, in der einst Großvater Victor und Tante Evi schraubten, ist bereits reaktiviert. „Die Kunden sind jetzt schon happy, weil sie ihre Technik sonst verschiffen müssten. Wartung, Instandsetzung, Umrüstung – da gibt es nicht mehr viele Möglichkeiten“, sagt Grünewald. Homepage und Online-Shop kommen: Der Rest des Hauses soll saniert werden. Eine Homepage ist im Aufbau, ein Online-Shop startet 2021. „Wir sehen uns die Warengruppen an, wollen alte wiederbeleben. Etwa alles, was Motor und Batterie besitzt: Autos, Flugzeuge, Trucks, Helikopter.“ Digitalisierte Spielwaren sind neu im Sortiment, Kontakte zu Sammlern und Modellbauclubs sollen ausgebaut werden. „Wir haben hier schätzungsweise 50 000 Einzelartikel. Wenn wir es nicht haben, hat es auch wirklich kein anderer mehr“, sagt er. Der 45-Jährige kehrt mit den technischen Spielwaren zu alten Wurzeln zurück. Früher war er in Werkstatt und Lager des technischen Kaufhauses und Spielwarenparadieses „Wilhelm Warter“ in Lübeck beschäftigt. Nach dem Aus von Warter reiste er als Berater, Kundenbetreuer und Vertriebler um den Globus, kommt nun wieder in Bad Segeberg an. „Wir haben genug Beschäftigung für die nächsten Jahre“, sagt er lachend. Doch die Kunden seien da: „Never change a running system. Das funktioniert auch mit Spielwaren.“ Lesen Sie auch: Immer mehr Traditionsgeschäfte schließen in Bad Segeberg Grafelstein räumt Geschäft in Bad Segebergs Zentrum Von Irene Burow