Türchen Nr. 1: Eine besondere Nachbarschaft

Könnte das alte Haus reden, es hätte viel zu erzählen: „Segeberger Str. 1“ steht in weißen Buchstaben auf dem blauen Emailleschild an der Hausecke. Auf der anderen Seite beginnt bereits die Dorfstraße. Es stand schon, da war Wahlstedt noch Dorf. Verschlafenes Nest. Vor über 120 Jahren wurde es errichtet. Und noch heute geben sich die Menschen die Klinke in die Hand, um es zu betreten. Manche weil sie ihren Lottozettel abgeben wollen, andere um das Versicherungsbüro zu besuchen oder im Laden von Petra Witt einen Blumenstrauß zu kaufen. Hauseigentümer Berndt Schulke, der Mann vom Lottoladen und seine Mieter seien eine gute Gemeinschaft, sagt sie. Gerade jetzt, wenn sie mitten im Weihnachtstrubel steckt, tun freundliche Gesten und ein nettes Gespräch gut. „Eigentlich ist Weihnachten für mich noch ganz weit weg“, räumt Schulke ein. Das sei doch noch Ewigkeiten hin. Natürlich habe er auch einen Adventskranz auf seinem Wohnzimmertisch — „ganz in Natur“. Der sei von nebenan sagt er und zeigt auf Petra Witt. Beide lachen. Backstube mit Ladengeschäft war das Haus einmal. Nach dem 2. Weltkrieg machte Eigentümerfamilie Bornholdt einen Edeka-Laden mit Lottoannahme daraus. Noch heute gibt es Bürger, die sich daran erinnern können. Schuster Hoppe spannte später eine Tür weiter, aber unter gleicher Anschrift, einst ausgelatschte Treter für seine Kunden über den Leisten und besohlte sie neu. Vor ein paar Jahren war für ihn Schluss. Wieder erlebte das Haus einen Umbau. Fast unverändert blieb dabei der gemütliche kleine Hinterhof. Er wirkt wie ein Bauerngarten auf winzigem Raum — und das mitten in der Stadt. Berndt Schulke steht vor der Holztür, die Nachbarin Witt öffnet. „Moin“, sagt er und stapft die Stiege ins Obergeschoss hoch. Ein paar alte Bilder schmücken die Wände im schmalen Treppenhaus. Zwei Wohnungen gibt es hier. Doch der Nachbar, ein Herr, ist nicht da. Und so sitzen Petra Witt und Berndt Schulke nebenan in der gemütlichen Wohnküche und klönen. Kurze Mittagspause. „Als ich das Haus angeboten bekam, Ende der 80er-Jahre, betrieb ich noch ein Sportgeschäft am Markt, erinnert sich Schulke. Doch das Interesse bei den Kunden schwand. Ein Tabakladen mit Lottoannahmestelle als zweites Standbein kam da gerade recht. Schulke erzählt, dass eine Discounterkette sein Haus mal kaufen und platt machen wollte. „Damals habe ich ernsthaft darüber nachgedacht. Heute würde ich das nicht mehr zulassen.“ Auch er verkleinerte seinen Laden im Laufe der Jahre, machte Platz. „Manchmal, wenn ich morgens vom Blumengroßmarkt komme, hat er ein Brötchen geschmiert oder einen Kakao gekocht: Wer kann das schon von seinem Vermieter behaupten?“, erzählt Petra Witt von der wirklich guten Nachbarschaft in der Segeberger Straße Nummer 1 in Wahlstedt. Noch 24 Mal schlafen bis Weihnachten. Statt Schokolade, warten hinter den (Haus)Türchen im LN-Adventskalender die Geschichten derjenigen, die dort leben. Jeden Tag in einem anderen Ort. Heute wird die Tür der Segeberger Straße 1 in Wahlstedt geöffnet. Heike Hiltrop

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