Versuchter Mord im Pflegeheim Wahlstedt: Anklage sieht verminderte Schuldfähigkeit

Es ist gut ein halbes Jahr her, als ein Pfleger in einer Einrichtung für an Demenz erkrankte Menschen in Wahlstedt auf seine Kollegin losgegangen ist. Das ist unstrittig. Aber hat der heute 24-Jährige bewusst kaltblütig und hinterrücks mit einem Hammer auf die 21-Jährige eingeschlagen – oder war es die blutige Tat eines verwirrten Mannes im Wahn? Das ist die Frage, mit der sich die 8. Strafkammer im Kieler Landgericht an drei Tagen Beweisaufnahme beschäftigt hat. Rückblick: Es ist der 31. Juli 2020, Freitagabend. Altenpfleger R. hält sich zusammen mit seiner Kollegin im Zimmer einer der 40 dementen Bewohnerinnen und Bewohner der Einrichtung auf, als er die junge Frau unvermittelt von hinten angreift und sie mit einem 450-Gramm-Eisen „niederhämmert“, wie er es selbst beschreibt. Immer wieder trifft er den Kopf. Sie schützt sich mit den Armen, auch die werden verletzt, ein Finger wird gebrochen. Als sie am Boden liegt, würgt er sie so lange, bis eine Kollegin durch ihre Schreie aufmerksam wird und zu Hilfe kommt. Das dürfte der jungen Frau das Leben gerettet haben. R. flüchtet zunächst, stellt sich jedoch nach einstündiger Irrfahrt noch in der Nacht bei der Polizei Bad Bramstedt. Opfer leidet noch heute unter den psychischen Folgen: Sein Opfer wird schwer verletzt, unter anderem mit einem offenen Schädelhirntrauma ins Krankenhaus gebracht und intensivmedizinisch versorgt. Die sichtbaren Wunden sind nach gut sechs Wochen verheilt, doch die seelischen noch immer nicht. Die Bad Segebergerin leidet nach wie vor an den psychischen Folgen des brutalen Angriffs, beschreibt sie am ersten Tag der Beweisaufnahme der Kammer. Noch immer ist sie in medizinischer Behandlung. Nach knapp einmonatiger Untersuchungshaft in Neumünster wird der 24-Jährige aus dem Amt Bornhöved in die forensische Psychiatrie nach Neustadt gebracht. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. R., ein zuvor unauffälliger junger Mann, der ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Pflege absolviert, in Segeberg seinen Realschulabschluss im Gesundheitsbereich und die Ausbildung zum Altenpfleger gemacht hat, wird wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung angeklagt. Täter ist vermindert schuldfähig: Bevor die Beweisaufnahme am Freitag geschlossen wird, Anklage und Verteidigung ihre Plädoyers halten, wird der blasse junge Mann mit der Meckifrisur in den Gerichtssaal geführt. Ein Beamter in Zivil nimmt ihm die Handschellen ab, als R. auf der Anklagebank Platz nimmt. Mit gesenktem Haupt und fast geschlossenen Augen folgt er dem Prozess, wirkt sehr schüchtern und verschlossen. Handyauswertungen lassen die Vermutung zu, dass er sich krankhaft übersteigert für seine Kollegin interessiert hat. Und der Chat mit einem Kollegen, einen Tag vor der blutigen Attacke, legt nahe, dass er sich in einer angespannten Situation befunden haben muss. „Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Es ist, als ob auf einmal eine Sicherung bei mir durchbrennt“, schreibt der Angeklagte dort. Ein Gutachten, das im Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit zur Sprache kommt, bescheinigt dem Täter später eine gestörte Persönlichkeit mit autistischen und schizoiden Zügen und eine verminderte Schuldfähigkeit. Die Schlussanträge von Anklage, Nebenklage, Verteidigung sowie das „letzte Wort“ des Angeklagten wurden im Prozess gegen den 24-Pfleger unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehalten. Der Grund dafür ergibt sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Sobald die ganze Beweisaufnahme oder auch nur ein Teil unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgt – in diesem Verfahren war es das psychiatrische Gutachten – müssen auch die Plädoyers nichtöffentlich gehalten werden. Da Öffentlichkeit in einem Gerichtsverfahren ein hohes Gut ist, muss das Gericht über jeden Antrag auf Nichtöffentlichkeit einzeln entscheiden. Hier ist dann das öffentliche Interesse gegenüber Schutzbedürfnissen von Zeugen oder Angeklagten abzuwägen. Urteil 19. Februar erwartet: Zum Ende der Beweisaufnahme sind Anklage und Verteidigung einig, dass R. bis auf Weiteres in einer Psychiatrie untergebracht werden muss. Für Verteidiger Ralf Stelling ist jedoch der ursprüngliche Tatvorwurf gegen seinen Mandaten nicht haltbar. In seiner ebenfalls nicht öffentlichen Schlussrede plädiert der Anwalt auf „eine gefährliche Körperverletzung bei verminderter Schuldfähigkeit“. Das Strafmaß hierfür liegt in der Regel bei zwei bis drei Jahren. Die Staatsanwaltschaft hingegen sieht weiterhin einen versuchten Mord in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung als erwiesen an. Wegen der verminderten Schuldfähigkeit fordert die Anklagevertretung neben der Unterbringung in der Psychiatrie eine Haftstrafe von sechs Jahren. Das Urteil soll am Freitag, 19. Februar, verkündet werden. Von Heike Hiltrop