Kreis Stormarn will Kosten zur Beschulung eines behinderten Jungens nicht übernehmen

Mit Schwung hievt Tjark die Biotonne auf den Rasentruck und steuert das Gefährt gekonnt über den langen gewundenen Pfad zum Haus. Wer den so zufrieden und ausgeglichen wirkenden Jungen erlebt, mag es gar nicht glauben: Der Neunjährige ist schon von drei Stormarner Grundschulen ausgeschlossen worden, weil er den Unterricht massiv störte, nicht mitmachte, schrie oder aggressiv reagierte. Ein Schultraining, das den Jungen auf höflichere Umgangsformen trimmen sollte, misslang. Eine vom Kreis Stormarn eingesetzte Schulbegleiterin kam mit ihm ebenso wenig zurecht und schmiss nach kurzer Zeit das Handtuch. Selbst das Förderzentrum Albert-Schweitzer-Schule in Bargteheide sah sich außerstande, den Jungen aufzunehmen. Für die Eltern begann unterdessen ein verzweifelter Marsch durch die Institutionen, der übrigens immer noch kein Ende genommen hat. Zwar haben die Seemanns jetzt im Haus Arild in Bliestorf eine Förderschule gefunden, deren pädagogisches Konzept in ihren Augen besser auf die zwischenzeitlich diagnostizierte spezielle seelische Behinderung ihres Sohnes einzugehen, doch nun tut sich ein anderes Problem auf. Sie sollen auf den Kosten für die private Einrichtung im Nachbarkreis Herzogtum Lauenburg nebst der Fahrtkosten dorthin sitzen bleiben, obgleich eine Regelschule für ihren Sohn nicht in Frage kommt. Vom Unterricht ausgesperrt: Bereits im Kindergarten fing das Drama an. Tjark wurde von den anderen Mädchen und Jungen getrennt, weil er störte. „Unsere Bemühungen, eine Frühförderung für ihn zu bekommen, wurden mit der Bemerkung abgetan, dass das ja nur für ein halbes Jahr wäre. Dann gehe er ja ohnehin in die Schule“, erzählt Vater Marc Seemann. Dort spielten sich ähnliche Szenen ab. Tjark wurde immer öfter vom Unterricht ausgesperrt, weil er sich nicht an allgemeine Regeln hielt. Mehr als einmal mussten die Eltern ihn abholen. Tipps aus der Lehrerschaft fanden sie wenig hilfreich. „Man hat uns gesagt: ’Machen Sie Ihrem Jungen zu Hause mal keine gute Zeit, dann besinnt er sich wieder’“, berichtet Seemann kopfschüttelnd. Gleich mehrere seelische Defizite: Unterdessen ließen er und seine Frau nichts unversucht, die Ursache von Tjarks Verhalten zu ergründen. Nach mehreren Besuchen bei Kinderpsychologen und einem teilstationären Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie stellte sich heraus, dass der Junge sich keinesfalls mutwillig und wissentlich renitent in der Schule verhält, sondern von einer vielschichtigen seelischen Behinderung gezeichnet ist. Demzufolge leidet er unter auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen sowie hyperkinetischen Störungen des Sozialverhaltens, auch unter dem Begriff Aufmerksamkeitsdefizit (ADHS) bekannt. Des Weiteren wurde Tjark eine Entwicklungsverzögerung von circa vier Jahren bescheinigt. Eine abschließende Untersuchung im sozialpädiatrischen Kinderzentrum Pelzerhaken steht noch aus, um weitere Hinweise auf mögliche körperliche Ursachen auszumachen. Die Eltern selbst haben inzwischen gelernt, mit der Behinderung umzugehen. „Wir stellen klare Regeln auf und sind da auch knallhart. Nur so funktioniert es. Er braucht feste Strukturen und muss genau wissen, was er darf und was nicht“, erzählt Marc Seemann. Nicht zuletzt wirkt sich offenbar der Einfluss der Förderschule positiv auf den Jungen aus. Im Haus Arild wird nach den Grundsätzen von Waldorfpädagogik und Inklusion gearbeitet. Statt frontal vor der Klasse wird das Wissen dort projektorientiert vermittelt. Die Schüler sollen „den Stoff durch eigenes Tun und Erleben begreifen“, lautet das Konzept. So könnten sie sich leichter konzentrieren und das Gelernte besser behalten. Als Schule in freier Trägerschaft sei das Haus Arild angehalten, Schulgeld zu nehmen, erklärt Rolf Döhler von der Geschäftsleitung. Dies betrage zurzeit 135 Euro. Für die Nachmittagsbetreuung und das Mittagessen fielen weitere 207 Euro an. Inklusive der Fahrtkosten kämen so fast 400 zusammen. Nach den Worten von Stormarns Schulrat Michael Rebling ist das Schulamt nicht in der Pflicht, diese Summe zu übernehmen. „Es ist keine Frage, dass wir uns sperren. Wir haben gar keinen Etat für so etwas“, erklärt er. Vielmehr handele es sich um einen typischen Fall von Eingliederungshilfe, da der Junge seelisch behindert sei. Als kompliziert erweise sich, dass gleich zwei verschiedene Sozialgesetzgebungen berührt seien und somit entweder das Jugendamt oder der Fachdienst Soziale Leistungen beim Kreis zuständig seien. „Zirkuläre Verantwortungsdelegation“: „Mein Sohn hat jetzt den Pflegegrad 2. Damit ist seine seelische Behinderung nach Paragraf 35 a anerkannt. Aber man wird von einer Stelle zur nächsten geschickt. Keiner will zuständig sein. Wir nennen das inzwischen zirkuläre Verantwortungsdelegation“, sagt der Vater bitter. Um Entlastung in der schwierigen Lage zu erfahren, stellte er Anträge an den Kreis auf Übernahme der Kosten fürs Schulgeld und die Beförderung. Denn bis dato fährt der Vater seinen Sohn jeden Morgen selbst nach Bliestorf. Zuständig ist nach LN-Recherchen das Jugendamt beim Kreis. Die Fachdienstleiterin bestreitet, dass jemals ein Antrag auf Übernahme des Schulgeldes eingetroffen ist. Auch eine Fahrtkostenübernahme zu Schule nach Paragraf 35 a könne es nur geben, wenn es sich aus Sicht der Fachbehörde „um eine geeignete Maßnahme“ handele. Der Junge besuche aber eine Privatschule und das auch noch als „selbst beschaffte Leistung“. Auf die Frage, welche Lösung sich denn für das behinderte Kind anbiete, erklärte Fachdienstleiterin Sabine Schmidt, er könne einer staatlichen Schule zugewiesen werden und dort von einer Schulbegleiterin betreut werden. „Das heißt also, alles wieder auf Anfang“, sagt Seemann, der mit seinen Nerven inzwischen ziemlich am Ende ist. Menschen mit einer Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens, auch bekannt unter Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), sind in ihrer Aufmerksamkeit beeinträchtigt, impulsiv sowie überaktiv. In der Schule oder anderen sozialen Situationen empfinden sie längere geistige Anstrengung, die hohe Konzentration erfordern, als unangenehm. Sie entziehen sich. Die Überaktivität äußert sich darin, dass die Kinder im Unterricht oder in anderen Situationen, in denen dies unpassend ist, umherlaufen und klettern. Häufig reden sie viel und wirken wie getrieben. Auch können sie nicht abwarten, unterbrechen und stören, was zu schulischen, sozialen oder beruflichen Problemen führen kann. Seelische Probleme bereiten auch Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS). Dabei ist die Weiterverarbeitung gehörter Informationen im Großhirn gestört. Betroffene können beispielsweise ein Gespräch mit einer Person schwerer oder nicht mehr verfolgen, wenn gleichzeitig Hintergrundgeräusche wie Verkehrslärm oder Gemurmel zu hören sind. Kindern mit einer Selektionsstörung fällt es schwer, in der Schule bei Umgebungslärm Laute aus Wörtern herauszufiltern. Sie verstehen dann nicht, was ein Lehrer sagt. Dorothea von Dahlen

Pölitz - Ene, mene muh, raus bist du...