Die Geisterjägerin: Verena Keßler über „Die Gespenster von Demmin“

Die Hamburgerin Verena Keßler lebt und arbeitet in Leipzig, wo sie am Deutschen Literaturinstitut studiert. Gerade stellt sie ihre Abschlussarbeit fertig – und freut sich auf ihre erste Lesung in ihrer Heimatstadt an der Elbe beim Debütantensalon des Harbour Front Literaturfestivals, das am 9. September beginnt. Frau Keßler, sie sind mit 32 Jahren noch sehr jung, Frau Keßler. In Ihrem Debütroman beschäftigen Sie sich mit dem Massenselbstmord von Demmin am Ende des Zweiten Weltkrieges. Wie sind Sie auf dieses Jahrzehnte zurückliegende Thema gekommen? Mein Freund hat Verwandte in Demmin. Sein Onkel wohnt dort, und dessen Frau ist gebürtige Demminerin. Als wir die beiden einmal besucht haben, kam das Thema beim Kaffeetrinken auf. Ich hatte davon noch nie gehört, und es hat mich natürlich sofort interessiert. Dann habe ich angefangen, dazu zu recherchieren und mich damit intensiver zu beschäftigen. Es hat mich nicht mehr losgelassen. Panische Angst vor Rache: Was ist seinerzeit in Demmin passiert? Der Krieg war verloren, und die Rote Armee war in Demmin aufgelaufen, weil die Wehrmacht, die kurz vorher aus der Stadt abgezogen war, die Brücken hinter sich gesprengt hatte. Die Demminer waren eingeschlossen und konnten nicht mehr in Richtung Westen flüchten. Die Altstadt brannte, Panik brach aus. Die Leute hatten vermutlich eine panische Angst vor den Russen – vor allem die Frauen. Genau. Es gab ja ohnehin viel Propaganda, was alles passieren würde, wenn die Russen kommen – und durch Berichte von rückkehrenden Soldaten war vielen klar, dass auch die Wehrmacht im Osten einiges an Grausamkeiten angerichtet hatte. Man hatte also Angst vor Rache, und es sind auch zahlreiche Vergewaltigungen in Demmin passiert. Gleichzeitig haben viele Deutsche einfach immer noch an das System geglaubt, das gerade zusammengebrochen war. Die konnten sich keine Zukunft mehr vorstellen – viele sind in die Peene gegangen und haben sich ertränkt. Wie viele Menschen waren das, die bei diesem Massenselbstmord den Tod gefunden haben? Hunderte. Die genauen Zahlen stehen nicht fest, man geht von 500 bis 1000 Toten aus. Manche sind abgetrieben, und es gab auch keinen Überblick darüber, wie viele Flüchtlinge sich zu diesem Zeitpunkt in der Stadt befunden haben. Ist das Thema in der Stadt heute immer noch präsent? Ihr Gespräch bei dem Onkel Ihres Freundes lässt das jedenfalls vermuten. Ja. Vor allem dadurch, dass es jedes Jahr zum 8. Mai einen Aufmarsch von Neonazis gibt, wo die dann durch Demmin laufen, die deutschen Opfer betrauern, Kränze in die Peene werfen und das Thema für Ihre Zwecke instrumentalisieren. Da ist immer einiges los, es gibt Gegendemonstrationen von den Demminern und dadurch ist das Thema zwangsläufig immer präsent. Haben Sie bei Ihren Recherchen auch noch mit Zeitzeugen sprechen können? Es gibt noch Zeitzeugen, aber ich habe mit keinem von Ihnen gesprochen. Ich hatte viel Material anhand von schriftlichen Zeitzeugen-Aussagen aus der Region, es gibt einen tollen Dokumentarfilm, „Über Leben in Demmin“ von Martin Farkas, wo auch Zeitzeugen zu Wort kommen – damit habe ich mich viel beschäftigt. Wie gehen die Leute damit um? Was hat Sie interessiert bei der Auseinandersetzung mit dem Thema? Am Anfang stand für mich die Frage, wie ist es, heute da zu leben – in einer Stadt, in der so etwas passiert ist? Wie gehen die Leute damit um und welche Rolle spielt es noch für sie? Das Thema schwingt in Ihrem Roman immer mit, der eigentlich ein Coming-of-Age Roman mit einer ganz jungen Protagonistin ist: Larissa, die nur „Larry“ genannt werden will, ist ein Teenager und will mal Kriegsreporterin werden. Wieso ausgerechnet Kriegsreporterin? Larry findet es ja langweilig und blöd, in Demmin aufzuwachsen, das geht wahrscheinlich vielen Jugendlichen so, die in einer Kleinstadt aufwachsen. Kriegsreporterin ist so ziemlich das ultimative Gegenteil davon, ein gefährlicher Beruf, den sie sich als Abenteuer vorstellt – sie hat ja auch gar nicht so richtig realistische Vorstellungen davon. Jemand, der heute in Deutschland aufwächst und hier geboren ist, ist schon so weit weg vom Thema Krieg, dass das auch nur unrealistische Vorstellungen sein können. Dennoch spielt die Kriegsvergangenheit permanent in die Gegenwart von Larissa hinein. Denken Sie, dass solche Ereignisse wie ein Massenselbstmord auch ein generationsübergreifendes Trauma hinterlassen? Ja schon, aber ich denke, es ist sehr individuell, wie sich das auswirkt. Was ich aber auf jeden Fall glaube: Wenn es in der Familie jemanden gibt, der so etwas miterlebt hat, wenn das nicht richtig verarbeitet ist und das Thema ausgeschwiegen wird, hat das auf jeden Fall Auswirkungen auf die Nachkommen. Und das trifft in anderer Weise ja auch auf Larry zu. Ihre Eltern sprechen nicht über den Tod ihres Bruders, der starb, als Larrys Mutter mit ihr schwanger war, und Larry macht sich deshalb dazu ihre eigenen Vorstellungen. „Davon habe ich noch nie gehört!“: Glauben Sie, dass spätere Generationen solche Traumata auch wieder auflösen können? Wahrscheinlich schon, vielleicht weil es mit jeder Generation weniger wichtig wird – aber so pauschal kann ich das nicht sagen, das ist sicher eher das Gebiet der Traumaforschung. Kann Ihr Buch ein Beitrag dazu sein? Das weiß ich nicht. Es kann vielleicht ein Gesprächsanlass sein. Wenn ich mit Leuten über Demmin gesprochen habe, war eine ganz häufige Reaktion: Davon habe ich noch nie gehört. Das Buch kann vielleicht dazu beitragen, dass das Thema etwas breiter bekannt wird. Lesen Sie hier die Buchbesprechung: Gelungenes Romandebüt: „Die Gespenster von Demmin“ Rat von der jüngeren Schwester eingeholt: Wer war denn ihr erster Leser? Das weiß ich gar nicht mehr genau. Ich habe aber mit meiner jüngeren Schwester viel über das Buch gesprochen, weil ich mir am Anfang nicht ganz sicher war, ob ich mich gut in eine Fünfzehnjährige hineinversetzen kann. Sie ist nicht fünfzehn, aber sie ist elf Jahre jünger als ich und hat mir dabei ein bisschen helfen und Rückmeldung geben können. Wie lange haben Sie an Ihrem Debütroman gearbeitet? Von der ersten Idee, über das Thema schreiben zu wollen, bis zur Veröffentlichung sind sechs Jahre vergangen. Ich habe lange gebraucht, um einen Zugang zu finden, der mir das Schreiben ermöglicht, das ging erst, als ich Larry als Figur gefunden hatte. Dann habe ich zwei Jahre intensiv am Text gearbeitet. War das literarische Schreiben immer ein Ziel von Ihnen? Ich wollte das immer schon, aber mir war nicht so richtig klar, wie ich das machen soll. Nach der Schule war es erst einmal wichtig, einen Beruf zu finden, mit dem ich Geld verdienen kann. So bin ich zum Werbetexten gekommen. Dann habe ich mich nach und nach dahin gearbeitet. Im September sind Sie zum Harbourfront Literaturfestival beim Debütantensalon zurück in Ihrer Heimatstadt. Ist das mit großer Aufregung verbunden? Auf jeden Fall. Ich freue mich total auf diese Lesung, weil dann auch meine Freunde und Familie kommen. Lesen Sie auch „Schimmelreiter“-Premiere in Lübeck Lübecker Kirchen zu Weihnachten ohne Gesang? Ein Blütenmeer der Sehnsüchte im Puppenhof Grüne Grenzen: Fotos von Valerio Vincenzo in Lübeck Mai 1945: Der Weltuntergang von Demmin Von Regine Ley