Anastassia Pletoukhina, eine Jüdin aus Lübeck, hat den Anschlag von Halle überlebt

Sie hat das zuerst gar nicht ernst genommen. Böller, hat sie gedacht. Da zündet einer seine alten Silvesterknaller. Aber andere in dem Raum warfen sich flach auf den Boden, wie bei einem Angriff. Und auf dem Monitor der Überwachungskamera sah man draußen vor der Tür der Synagoge einen Mann, als zöge er in den Krieg. Er trug ein Gewehr in den Händen, Helm und Kampfmontur. Es war bizarr und unwirklich. Aber die Wirklichkeit dieses Moments sollte sich einschreiben in die deutsche Geschichte. Es war eine Zäsur, noch eine, und Anastassia Pletoukhina (34) war mitten drin. Abitur auf dem Johanneum: Sie war zwölf, als sie mit ihrer Familie aus Russland nach Lübeck kam. Sie ging hier zur Schule, ging zur Synagoge, engagierte sich in der jüdischen Jugendarbeit, machte 2006 auf dem Johanneum Abitur und studierte in Hamburg Sozialpädagogik und Soziale Arbeit. Seit zehn Jahren lebt sie in Berlin, hat ihre Doktorarbeit beendet und arbeitet für die Jewish Agency for Israel. Als der römische Kaiser Konstantin am 11. Dezember 321 n. Chr. festlegte, dass Juden Ämter in der Kölner Stadtverwaltung bekleiden dürfen, schrieb er Geschichte. Es ist der erste verbriefte Nachweis über die Existenz von Juden auf deutschem Boden und gilt als der älteste Beleg jüdischen Lebens in Europa nördlich der Alpen. Das Original des Edikts befindet sich im Vatikan. Das ganze Jahr 2021 über soll mit zahlreichen Veranstaltungen an das Jubiläum erinnert werden. Derzeit haben die 105 Gemeinden, die zum Zentralrat der Juden in Deutschland gehören, rund 96 000 Mitglieder. Info: www.jilid2021.de Der Attentäter von Halle wurde im Dezember 2020 wegen zweifachen Mordes und mehrfachen Mordversuchs zu lebenslanger Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Sie war mit ihrem Mann in der Synagoge an diesem 9. Oktober vor anderthalb Jahren. Es war Jom Kippur, das Versöhnungsfest. Der höchste jüdische Feiertag. Sie wollten ihn nicht in Berlin begehen, wo die Synagogen oft sehr voll sind zu solchen Gelegenheiten. Sie hatten an Lübeck gedacht, wo ihre Familien leben. Aber dann sind sie mit anderen nach Halle gefahren, wo sie die Gemeinde kannten und den Vorbeter, ein guter Freund von ihnen. Sie waren etwa 50 Menschen in der Synagoge, Männer, Frauen, Alte, Junge. Dann fielen die Schüsse. Mit Notfallhandy Polizei gerufen: Sie verbarrikadierten die Türen und flohen nach oben, in einen der hinteren Räume, weg von der Tür, weg von den Fenstern. Sie hatten keine Smartphones dabei, weil elektronische Geräte an jüdischen Feiertagen nicht erlaubt sind. Der Vorsitzende der Gemeinde aber hatte ein Notfallhandy, mit dem sie die Polizei riefen. Dann saßen sie da, eine Gruppe von Juden, und draußen wartete der Tod, ein Dreivierteljahrhundert nach dem Untergang des Nazi-Reiches. „Ein Alptraum“, sollte Bundespräsident Frank Walter Steinmeier später sagen. „Am helllichten Tag, mitten in Deutschland. Ausgerechnet in Deutschland.“ Sie hat vor allem die Älteren bewundert, sagt Anastassia Pletoukhina. Sie seien ruhig geblieben und hätten die Fassung bewahrt. Sie selbst habe da gesessen, und in ihrem Kopf arbeitete die Frage, ob dieser Anschlag ihnen als Juden galt oder ob er weiter gefasst war. Lesen Sie auch Wie ist jüdisches Leben heute in Lübeck, Herr Verleger? Holocaustgedenken: Auch in der nächsten Generation kein Schlussstrich! Zentralratspräsident Schuster: AfD nutzt Juden als Feigenblatt für Demagogie Sie kannte Antisemitismus, natürlich, auch in Lübeck. Sie erzählt von Leuten, die junge Juden aus dem jüdischen Jugendzentrum verbal attackierten. Von Steinen, die gegen die Synagoge geworfen wurden. Vom T-Shirt mit einer Israel-Flagge darauf, das verbrannt vor der Tür lag. Sie erzählt von der Polizeiwache, die passieren musste, wer in die Synagoge ging. Sie wusste von dem Brandanschlag auf das Gebäude 1994. Sie kannte das alles, es war ihre Realität. Und jetzt saß sie da und fragte sich, ob ihr Leben sicher war in diesem Land. Es dauerte etwas, bis die Polizei kam, acht Minuten nach offizieller Lesart. Aber es war nur ein Streifenwagen, mehr nicht. Es brauchte noch eine Weile, bis ein Einsatzkommando die Synagoge betrat und ihnen sagte, es sei jetzt sicher. Aber sie konnten sich noch immer kein Bild machen von dem, was da draußen geschehen war. Etwas Ungeheuerliches hatte sich ereignet, etwas, das als Nachricht verpackt längst um den Erdball lief und für Entsetzen sorgte. Bei den Menschen in der Synagoge aber kamen die Informationen nur spärlich an. Und das Gebäude durften sie erst nach fünf Stunden verlassen. Psychologische Hilfe: Ihr sei nicht daran gelegen, die Polizei zu kritisieren, sagt sie. Aber es gebe einiges aufzuarbeiten, auch für sie selbst. Sie hat wie die anderen psychologische Hilfe gebraucht, und sie braucht sie nach wie vor. Da sei so viel in ihr zusammengeschlagen, so viel an Gefühl und Gedanken. Sie hatten überlebt, „wie durch ein Wunder“, weil die Tür standhielt. Aber der Attentäter hatte da draußen zwei Menschen erschossen und andere verletzt. Da kollidierten in ihr Glück, Trauer, Schmerz, Fassungslosigkeit und der Versuch, das alles irgendwie zu begreifen. Hat sie überlegt, wegzugehen aus Deutschland? „Nein“, sagt sie. „Ich habe mich entschieden, das nicht zu tun. Immer wieder.“ Im Verfahren vor dem Oberlandesgericht Naumburg ist sie dem Attentäter Stephan B. begegnet. Sie hat als Vertreterin der Nebenklage plädiert, was möglich ist in einem Prozess, ihr Mann hat als Zeuge ausgesagt. Sie hat versucht, ihn nicht als Person wahrzunehmen und nicht in ihr Leben zu lassen, sagt sie. Natürlich habe er geschossen und gemordet. Natürlich sei er mit dem Gedanken an ein Massaker zur Synagoge gefahren, an einen jüdischen Massenmord, den ersten seit dem Ende der Massenmorde der Nazis. Und er hat nach der Urteilsverkündung auch eine Mappe in Richtung ihres Mannes geworfen. Aber sie habe ihn als ein Produkt vieler verpasster Chancen gesehen und das im Verfahren bestätigt gefunden. Da habe ihr auch ihr Beruf, ihre Ausbildung geholfen. Kein Platz für einen Dämon: „Er ist bei vielem durch das Raster gefallen“, sagt sie. „Das hatte für mich ein institutionelles Versagen an vielen Stellen.“ Ihn als einen Fall zu betrachten, sei sicher auch eine Strategie, damit fertig zu werden. „Ich wollte ihm nicht den Platz eines Dämons in meinen Träumen einräumen. Ich wollte ihn nicht als das absolut Böse sehen, weil ich nicht glaube, dass er das absolut Böse ist. Das wäre zu einfach und würde den Kontext und die Kontinuität ausblenden.“ Und in einer Kontinuität stehe der Anschlag zweifellos. Halle, die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vier Monate zuvor, die rassistischen Morde von Hanau vier Monate später – da von Verrückten, von in den Wahn gedrifteten Einzeltätern zu sprechen, das gehe nicht mehr. Der Anschlag von Halle sei monströs, aber er stehe in einer Linie. Empathie! Und emotionale Intelligenz: Was sie sich wünscht? „Empathie“, sagt sie. „Immer wieder. Von allen Seiten. Auch die emotionale Intelligenz, vor der wir uns fürchten als deutsche Gesellschaft.“ Es gebe so vieles, was versteckt worden sei und im Verborgenen habe weiter bestehen können. Das gehöre auf den Tisch. „Auch der Anschlag von Halle ist ein Produkt dieser nicht aufgearbeiteten traumatischen Erlebnisse. Irgendwann wird es zu groß. Irgendwann müssen wir darüber sprechen. Und ich hoffe, dieses Irgendwann kommt eher früher als später.“ Von Peter Intelmann