Bücher für die Trümmerkinder

Es hat Zeiten gegeben, die Betagten werden sich erinnern, da hatten nicht elektronische Geräte, sondern Bücher den Wert von Preziosen – vor allem für junge Mediennutzer. Von solch einer Phase erzählt der Band von Jella Lepman mit dem Titel „Die Kinderbuchbrücke“. Lepman war in den ersten Nachkriegsjahren, also in den späten 1940ern und frühen 1950ern, eine bedeutende Missionarin im Dienste der Kinderliteratur und der Erziehung einer von Krieg und Nationalsozialismus verstörten jungen deutschen Generation. Weltoffenheit und Versöhnung waren ihre Leitideen. 1936 musste Jella Lepman mit ihren Kindern aus Deutschland emigrieren: Sie kam 1891 in Stuttgart als Jella Lehmann zur Welt und wurde dort nach dem Ersten Weltkrieg eine der ersten Zeitungsredakteurinnen. Sie wurde früh Witwe, ihr Ehemann Gustav Lepman starb 1922 an den Spätfolgen einer Kriegsverwundung. Als Mitglied einer jüdischen Familie musste sie 1936 mit ihren beiden Kindern aus Deutschland emigrieren, erst nach Florenz, dann schaffte sie es nach London. Dort konnte sie wieder als Journalistin arbeiten, für die American Broadcasting Station in Europe produzierte sie gemeinsam mit Golo Mann Beiträge, die nach Deutschland gesendet wurden. 1945 kehrte Jella Lepmann nach Deutschland zurück: Jella Lepman war eine jener rastlosen deutschen Intellektuellen, die im Exil einigermaßen überleben konnten, die es jedoch nach 1945 wieder zurück ins Land zog, von dem sie einst ausgespuckt worden waren. Sie kam in der Uniform der US-Army in Frankfurt am Main als Beraterin der Besatzungstruppen an. Beraten sollte sie die Militärs in Sachen kultureller Bildung von deutschen Frauen und Kindern, was auch für Lepman sehr unspezifisch klang. „Die Sieger betrachteten es als ihre Aufgabe“, schreibt sie, „den Besiegten wieder auf die Beine zu helfen.“ Sie ließ sich zunächst im Jeep durch das zerstörte Süddeutschland karren, suchte das Gespräch mit den Eingeborenen und den verbliebenen oder wiedererschienenen Honoratioren. Und sie sah das Elend der Kinder, die sich bei jedem ihrer Stopps in Trauben um den Jeep versammelten: „Viele von ihnen lebten in Banden in zerstörten Häusern, Unterständen, unter Treppen, sogar in Höhlen.“ Ihnen wollte sie eine Vorstellung von einem kultivierten Leben vermitteln – mithilfe von altersgemäßer Literatur. „Die Kinder werden den Erwachsenen den Weg zeigen“, war Lepman überzeugt. Jella Lepman gelang es mithilfe von prominenten Fürsprechern wie der ehemaligen US-amerikanischen First Lady Eleanor Roosevelt oder der deutschen Sozialreformerin Elly Heuss-Knapp, Frau des ersten Bundespräsidenten, Mittel aus den USA einzuwerben, die es ihr erlaubten, aus aller Welt Kinderbücher herbeizuschaffen. Zunächst 4000 Bände aus 14 Ländern. Daraus wurde vorerst eine Ausstellung, die das junge deutsche Publikum mit bisher verfemten Figuren wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn von Mark Twain bekannt machte, auch mit dem Stier namens Ferdinand von Munroe Leaf, mit den merkwürdigen Wesen aus „Alice im Wunderland“, mit dem Pinocchio von Carlo Collodi, mit Meisterdetektiv Kalle Blomquist von Astrid Lindgren oder auch Disneys Micky Maus. Im Münchner Haus der Kunst, einem von den Nazis erbauten Protzbau, fand die erste dieser Konfrontationen von internationaler Literatur mit deutschen Kindern statt. Die US-Army hatte in dem Gebäude ihre Offiziersmesse eingerichtet und sie üppig dekoriert. „Der amerikanische Kitsch rivalisierte erfolgreich mit des Führers Kitsch“, schreibt Lepman. Ab Juli 1946 strömten täglich hunderte deutscher Trümmerkinder und ihre Eltern, soweit es sie noch gab, in die Halle, um sich der Bücher zu bemächtigen – zumindest für ein paar Stunden. Die Kinderbuchausstellung ging nach der Station München auch nach Frankfurt, Stuttgart und Westberlin, auch dort war sie ein großer Erfolg. Aus der Wanderschau wurde letztlich eine Institution mit festem Sitz. In einer Münchner Villa eröffnete Jella Lepman 1949 die erste Bibliothek für internationale Kinder- und Jugendliteratur der Welt. Ihr zur Seite stand der Schriftsteller Erich Kästner als eifriger Propagandist von Lepmans Ideen. Sein erfolgreichstes Buch aus der Vorkriegszeit, „Emil und die Detektive“, konnten Kinder in Lepmans Bibliothek wieder kennenlernen, 1936 war es von den Nazis verboten worden. Kästner gründete unter dem Dach des Anwesens eine Theatergruppe, die ihr eigenes Stück probte. Und er schrieb auf Anregung von Jella Lepman seinen ersten Nachkriegsroman – „Die Konferenz der Tiere“. „Die Zahl der gescheiterten Konferenzen wuchs mit jedem Monat“, scheibt Lepman über die Versuche einer Neuordnung der Welt nach 1945. „Vielleicht war es besser, einmal die Tiere zum Zug kommen zu lassen.“ Kästners Konferenz, einberufen vom Löwe Alois, dem Elefanten Oskar und der Giraffe Leopold, erkennt, dass an Kriegen und anderen Missständen „die Akten und das Militär“ Schuld seien, also Bürokratie und Waffen. Lesen Sie auch Zukunftsforscher Matthias Horx: „Die Corona-Pandemie war keinesfalls unvorhergesehen“ Ist Robert Habeck ein bedeutender Schriftsteller? Die Nachkriegskinder sollten zu mündigen Bürgern erzogen werden und auch Autoritäten in Frage stellen dürfen. Deshalb ließ Jella Lepman Diskussionen über alles veranstalten, was Kinder betraf – Schule, Freizeit, Freundschaft. Und, noch wichtiger, der Nachwuchs solle sich seine eigene Meinung auch über die neuen Bücher bilden. Keck wurde mündlich und schriftlich kritisiert. Ein Zehnjähriger etwa befand zur deutschen Ausgabe von „Alice im Wunderland“: „Was für eine blöde Übersetzung, sie hat das ganze Buch verdorben! Das lass ich lieber von meiner Mutter übersetzen, die kann’s tausendmal besser.“ Eine 13-Jährige urteilte über Kurt Helds „Die Rote Zora“: „Manche Erwachsene meinen, dass dieses Buch unpassend für uns ist, weil nicht alle Menschen darin gut sind. Das ist ja ganz veraltet. Wir sind doch keine Säuglinge.“ Jella Lepman ließ sich gerne hofieren: Jella Lepman war bei allen ihren Initiativen nicht frei von Eitelkeiten, das wird in ihrem biografischen Buch deutlich. Sie umgab sich gerne mit Prominenz, mit Autoren und Politikern aus aller Welt, und ließ sich von ihnen feiern. Auf den Fotos, die in ihrem Buch zahlreich zu sehen sind, wirkt sie damenhaft-streng und respekteinflößend. Doch sie hatte auch eine antiautoritäre Seite. Kinder verurteilte sie auch dann nicht, wenn diese immer noch dem Krieg und den Nazis nachtrauerten. Jüdin Lepman hatte Verständnis für die Deutschen: Und auch für die Not der Eltern hatte sie Verständnis: „Denkt man an jene Zeit, so darf man nicht vergessen, dass die Begriffe von Anstand und Moral sich völlig verwirrt hatten. Da ging eine deutsche Frau abends auf die Straße, um ihrer Familie das Lebensnotwendigste zu verschaffen...“ Will sagen: Sie prostituierte sich. „Die Kinderbuchbrücke“ ist durch solche Überlegungen nicht nur eine Aufzeichnung zu Jella Lepmans Initiativen. Das Buch ist auch ein lebendiger Report aus den Nachkriegsjahren, über das Aufrappeln der Deutschen im amerikanischen Sektor und über eine Besatzungsmacht, deren Haltung gegenüber den Einheimischen zwischen Wohlwollen und Befremden changierte. Bis 1957 war Lepman Direktorin der Internationalen Jugendbibliothek. Sie regte noch eine Reihe von literarischen Initiativen an wie das „Internationale Kuratorium für das Jugendbuch“, das bis heute von Basel aus Kinder und Bücher zusammenbringt. 1870 starb sie in Zürich. Die Münchner Bibliothek gibt es noch, seit 1983 am Stadtrand auf Schloss Butenburg. Dort wird nach wie vor das Kinder- und Jugendbuch gefördert, der Nachlass von Michael Ende, James Krüss und Mirjam Pressler wird verwahrt, und es gibt einen Jella-Lepman-Saal. Doch auch wenn die japanische Kaiserin Michiko Ehrenmitglied ist, so ist die Ausrichtung heute eher regional als international. Vielleicht auch, weil das Interesse von jungen Leuten heute anderen Medien als dem Buch gilt. „Die Kinderbuchbrücke“ von Jella Lepman, Verlag Antje Kunstmann, 300 Seiten, 25 Euro. Die Internationale Jugendbibliothek auf Schloss Butenberg in München wird seit 1995 von einer Stiftung betrieben, welche von der Verlegerin Christa Spangenberg (1928-2003) gegründet wurde. Von Michael Berger