Corona-Schicksal: Lübecker Tontechniker will nicht vom Staat leben

Nein, er will sich nicht beschweren. Er sei zwar „sehr enttäuscht“, aber beschweren will er sich trotzdem nicht. Darauf legt Jose Carlos Cordoba Vidal Wert, denn für eine „weltweite Pandemie kann niemand etwas“, sagt der gebürtige Kolumbianer – „hart“ sei es trotzdem gewesen, wenn er darauf zurückblicke, wo er vor einem Jahr noch als freiberuflicher Tontechniker stand, und wo er heute als gebeutelter Solo-Selbstständiger steht. „Sehr hart sogar.“ Lübecker Tontechniker war gefragt vor der Krise: Vor einem Jahr konnte der 38-jährige Lübecker nach Abzug der Steuern „relativ gut“ von seinen Aufträgen leben. Er war gefragt, wenn Events anstanden – mal als Tontechniker, mal als Musiker, mal als DJ. „Es waren keine sicheren Einnahmen, aber ich war unabhängig und glücklich“, sagt Cordoba Vidal, den alle gern „Cheo“ nennen. Ein-Mann-Unternehmen in den Startlöchern: Manchmal sei die Auftragslage so gut gewesen, dass er mit mehreren tausend Euro rechnen konnte, manchmal waren die Buchungen weniger gut, so dass man weniger für sich und die Familie übrig hatte. „So war mein Leben und es war gut so“, sagt der zweifache Vater. Sein kleines Ein-Mann-Unternehmen „Cordoba Sounds“ war gerade in den Startlöchern. Natürlich springt da anfangs nicht gleich das große Geld raus. Aber Carlos war fein damit. „Ich hatte es mir ja so ausgesucht.“ Als Künstler unabhängig, bis Corona kam: Dann kam Corona – und eine existenzielle Not, die Cordoba Vidal sich ganz bestimmt nicht so ausgesucht hatte. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte“, beschreibt er seinen anfänglichen Schock, als Veranstaltungen und damit auch seine Einkommensquelle wegbrachen. „Das Gefühl, plötzlich vor dem Nichts zu stehen, war nicht schön.“ Anfangs noch sei er hoffnungsvoll gewesen, dass es sich bei der Situation um einen „überschaubaren“ Zeitraum halte, den er irgendwie mit Rücklagen und mit Hilfe von Freunden überbrücken konnte, berichtet Cordoba Vidal. „Ich war zuversichtlich, dass ein Gesundheitssystem wie eines, das wir in Deutschland haben, die Situation in den Griff bekommen würde.“ Als dann aber die Maßnahmen anhielten, weil die Infektionszahlen zu hoch waren, wurde ihm klar, dass die Veranstaltungsbranche so ziemlich die letzte Branche sein würde, die ihren Betrieb wieder aufnehmen könnte. „Ich wusste nicht mehr, wovon ich leben sollte.“ Lesen Sie auch Lübeck: Betroffene kritisieren fehlende Corona-Hilfe für Solokünstler Das Rider’s Café Lübeck kämpft ums Überleben Lübecker Cellist Daniel Sorour nutzt die Chancen in der Krise Wie das Zaubertheater Lübeck die Coronakrise meistert Hartz IV statt Soforthilfe: Die Soforthilfe vom Land beantragte Cordoba Vidal umgehend. Der Steuerberater dämpfte schnell die Hoffnung auf finanzielle Unterstützung, als er feststellen musste, dass die Einnahmen des Solo-Selbstständigen aus dem Jahr 2019 als Bemessungsgrundlage zu unbeständig und gering waren. Betriebskosten wie Büromiete, Geräte, Maschinen oder Mitarbeiter konnte Cordoba Vidal als freiberuflicher Künstler auch nicht geltend machen. Aus der Traum von der Solidarität. „Ich bekam einmalig 300 Euro Soforthilfe, das war’s.“ Antrag auf Unterstützung an Formalitäten gescheitert: Zweimal habe er noch versucht, Hilfe bei der Possehl-Stiftung für eine Unterstützung aus deren Hilfefonds zu beantragen – scheiterte aber an den Formalitäten und den Nachweisen für seine Bedürftigkeit. „Die Auflagen waren für mich sehr kompliziert“, gibt er zu. Was blieb, war der Weg zum Arbeitsamt und ein Antrag auf ALG II – sprich Hartz IV. „Cheo“ lebte ab dem Sommer 2020 von rund 900 Euro im Monat, berichtet er. Tag für Tag verfolgte er die Nachrichten rund um das Virus und wusste, er brauchte langfristig eine Lösung. „Ich will nicht vom Staat leben“. Viele Freiberufler von betroffen: Mit dem zweiten Lockdown im Herbst gab es erneut das Angebot für finanzielle Staatshilfe – und erneut bürokratische Auflagen, an denen Carlos als Solo-Selbstständiger scheiterte. „Das mit den Hilfsgeldern ist sehr kompliziert und auch ein Steuerberater kostet Geld.“ Geld, das Cordoba Vidal letztlich nicht mehr übrig hatte. „Das ist schwer erklärbar“, fasst er sein Dilemma zusammen. „Ich war demotiviert und depressiv.“ Künstler-Kollegen von ihm hätten ähnliches erlebt, berichtet er, auch bundesweit wurde Kritik immer lauter, dass die Überbrückungshilfen nicht für jedermann greifen. Zusammen machte man auf das Schicksal aufmerksam, zum Beispiel auch in der Lübecker Kampagne „Ohne Kunst und Kultur wird’s still“. „Freiberufler und Solo-Selbstständige fallen durchs Raster“: Maria Paz Caraccioli Gutierrez, die die Kampagne leitet, kennt diese schicksalhaften Abstürze, wie die von Cordoba Vidal, sehr gut: „Das ist kein Einzelfall“, sagt die 41-Jährige, die im engen Austausch mit Betroffenen steht. „Das Grundproblem ist, dass die Überbrückungshilfen nur die Fixkosten abdecken, die innerhalb eines Betriebes entstehen“, fasst sie zusammen. „Freiberufler und Solo-Selbstständige, die aber keine laufenden Fixkosten wie Büromiete oder Mitarbeiter haben, fallen durchs Raster.“ Vergessen würde dabei, dass diese Menschen trotzdem Lebenshaltungskosten haben, die sie durch die Krise und weggefallenen Aufträge nicht mehr abdecken könnten. „Das ist entwürdigend und nicht fair, dass sie so unverschuldet in Not geraten“, sagt die Lübeckerin. Auch „Cheo“ hat sich für ihre Plakataktion ablichten lassen. Aber finanziell genützt hat es nichts. „Ich musste einen anderen Weg finden.“ Neuer Job seit Januar: Ein neuer Job musste her und mit ihm eine Einkommensquelle, mit der Cordoba Vidal als Papa stark bleiben wollte. „Ich wollte etwas Sicheres.“ Möglichst außerhalb der Veranstaltungsbranche. Festanstellung in einer Firma: Fündig wurde Carlos schließlich über einen Freund in einer Lübecker Firma für Handwerkerbedarf. Hier arbeitet er seit Anfang des Jahres in einer Festanstellung im Einkauf und ist „sehr glücklich“ – und hier möchte er bleiben, denn die Aussichten auf einen Job in seiner alten Tätigkeit sind ihm zu unsicher. „Wir werden in der Veranstaltungsbranche noch lange auf eine Art Normalität warten müssen“, sagt der 38-Jährige. Frühestens im Sommer könne man mit ersten Veranstaltungen „unter Corona-Bedingungen“ rechnen und dann seien die Jobs so rar und so begehrt, sagt Cordoba Vidal, dass er damit nicht planen könne. „So ein berufliches Risiko will ich nicht mehr.“ Diese Texte haben wir exklusiv für LN-Plus-Leser recherchiert: Diese Regeln gelten für die Januar-Verlängerung des Lockdowns in Schleswig-Holstein Eingeschränkter Bewegungsradius: Das bedeutet eine 5- oder 15-Kilometer-Regelung Interaktive Grafik: In welchen Kreisen in SH droht die eingeschränkte Bewegungsfreiheit? Diese Regeln gelten für Schulen und Kitas Corona-Tote im Bekanntenkreis: Der Familienvater versucht, sein Schicksal dennoch positiv zu sehen. „Diese Krise hat viel mit uns allen gemacht.“ Auch wenn die Hilfen in seinem Fall nicht gegriffen haben, weiß der Familienvater heute andere Dinge zu schätzen. „Ich bin dankbar, dass ich gesund bin“, fasst er zusammen. „In meiner Heimat sind in meinem Bekanntenkreis einige Menschen an Corona gestorben“, erzählt er. Sein Bruder, der seit zehn Jahren als Arzt in Mexiko arbeite, sei Tag und Nacht im Einsatz gegen das Virus. „Kampf gegen das Virus wird eines Tages beendet sein“: Heute erfreue er sich mehr denn je am Lachen seiner Kinder. Das Leben sei das Kostbarste, was der Mensch habe, sagt Cordoba Vidal. Und ja, er glaube fest daran, dass der Kampf gegen das Virus eines Tages beendet sein werde. Denn: „Wir Menschen brauchen das Leben, das Lachen und die Nähe zueinander.“ Und das komme eines Tages ganz bestimmt wieder. Von Schabnam Tafazoli