Die Not der Künstler in Zeiten von Corona

Akkordeon hat sie heute gespielt – allerdings nicht wie geplant auf einer Hamburger Bühne, sondern in ihrem Lübecker Altstadthaus. Martina Tegtmeyer hätte in diesen Tagen und den kommenden Wochen viele Auftritte gehabt. Die Musikerin nutzt die Zeit, um neue Stücke zu arrangieren. „Ich habe meinen Schülern gerade welche per Email geschickt“ Einnahmen habe sie keine derzeit, „wenigstens muss ich keine Miete zahlen“. Im Lübecker Stadttheater genießt das Publikum große Opern, Operetten, Musicals und Schauspiele, in der MuK Konzerte mit den Lübecker Philharmonikern. Wenn diese Veranstaltungen nun auf noch nicht absehbare Zeit ausfallen, dann bekommen alle angestellten Sänger, Schauspieler und Orchestermusiker ihr Gehalt weiter – in Schwierigkeiten kommen das Theater als Institution und die MuK als Konzertveranstalter. Beide können auf die angekündigten Hilfen von Bund und Land hoffen. Schlechter geht es da schon Sängern, die in keinem festen Angestelltenverhältnis stehen, sondern als Freiberufler von verschiedensten Theatern engagiert werden – ihnen fallen Einnahmequellen weg. Viele Theater bemühen sich, trotz der knappen Kassen, auch den freien Mitarbeitern unter die Arme zu greifen – denn alle sitzen im selben Boot. Dürfen wir die Künstler jetzt alleine lasen? Und was ist mit den freien Instrumentalsolisten, den kleinen Ensembles, den privaten Theatern, den Aufführungen an ausgefallenen Spielorten wie in Museen und Galerien, den Veranstaltungen in vielen privat betriebenen Räumlichkeiten, die für die viel gepriesene kulturelle Vielfalt Lübecks stehen? Sind wir uns dessen bewusst, was es für solche Gruppen und einzelne Künstler bedeutet, einen Monat oder mehr ohne jegliches Einkommen zu sein? Dürfen wir diese Künstler jetzt alleine lassen? Nette Briefe ans Theater Partout, aber auch erboste Zeitgenossen: Uli Sandau, der zusammen mit Reiner Lorenz das „Theater Partout“ betreibt, kennt beides: liebenswerte e-mails von besorgten, treuen Theaterbesuchern mit den besten Wünschen und der Bereitschaft, schon gekaufte Eintrittskarten zu spenden, aber auch erboste Zeitgenossen, die mit Vehemenz und oft ungebärdigem Verhalten ihr Recht auf Erstattung einer Karte einfordern. Der Vorverkauf für die neuste Produktion lief bislang ausgezeichnet und nun bricht alles zusammen. Es gibt keine Einnahmen, doch die laufenden Kosten fallen weiter an. Wenn der Notgroschen aufgebraucht ist, den man bislang noch nie anzurühren brauchte, dann ist das „Partout“ am Ende. Combinale musste Schauspieler und einem Regisseur absagen: Nicht anders geht es dem „Theater Combinale“. Auch hier lief alles bestens, die letzten Vorstellungen waren ausverkauft, nun muss ein neues Stück, das für den Herbst geplant war, auf nächstes Frühjahr verschoben werden. Sigrid Dettlof, Ulli Haussmann und Wolfgang Benninghoven mussten Schauspielern und dem Regisseur Absagen erteilen und hier zeigt sich, wer die allerschwächsten Glieder der Kette sind: die freiberuflichen Künstler. Kaum einer hat Rücklagen für mehrere Monate, aber viele haben Familie. Weder das „Partout“ noch das „Combinale“ verfügen über Mittel, die es ihnen erlauben würden, freien Schauspielern großzügig entgegenzukommen. Das öffentliche Leben erlahmt in einem nicht bekannten Ausmaß, es gibt für Sänger, Schauspieler und Instrumentalsolisten keine Engagements. Nirgends. Die Gefahr, dass die kulturelle Vielfalt unserer Stadt zugrunde geht, ist riesengroß. Nothilfefonds der Orchesterstiftung: Die Deutsche Orchesterstiftung hat einen Nothilfefonds gegründet, jeder Musiker, der Mitglied in der Künstlersozialkasse ist, kann dort Unterstützung beantragen. Die Bedingungen, zu denen Künstler in diese Kasse aufgenommen werden, sind jedoch besonders für Berufsanfänger nicht einfach – vielen freischaffenden Künstlern bleibt daher auch diese Möglichkeit verwehrt. Künstler brauchen auch emotional den Auftritt: Auf einen weiteren Aspekt weist Annette Toepel, die Pianistin des Lübecker Trios JAC und Duopartnerin des Geigers Jan Baruschke, hin: Musiker leben nicht nur finanziell von ihren Auftritten, sondern auch emotional. Musiker wollen üben, proben und auftreten, sie wollen ihrem Publikum etwas geben. Und das Publikum sollte gerade in diesen schweren Zeiten zu den Künstlern stehen. Seiltänzerin Ea Paravicini poliert ihren Bauwagen auf: Die Lübecker Seiltänzerin Ea Paravicini nutzt die Zwangspause, um ihren Bauwagen abzuschleifen – und natürlich fürs Training, um sich fit zu halten. Gerade ist eine Aufführung in der Gollan-Werft ausgefallen. Ende Mai hat sie die nächsten Auftritte beim „Panopticum Curiosum“ in der Schweiz. „Ich hoffe sehr, dass das Festival stattfindet.“ Ninon Gloger: auch eine tolle Chance: Ninon Gloger ist ganz froh, zu Hause zu sein. Einerseits. Sie ist Mutter zweier jüngerer Kinder, und die wollen betreut und versorgt sein. Andererseits ist sie Pianistin und hat jetzt keine Aufträge, „es fällt alles aus“. Das gilt auch für ihren Bruder, einen freischaffenden Sänger. Außerdem veranstaltet sie die Reihe Klangrauschen mit Neuer Musik, und es hätten jetzt in Kooperation mit dem Theater Kiel zwei technisch sehr aufwendige Konzerte stattfinden sollen. Die sind abgesagt worden, und der Saalbetreiber frage jetzt auch, was mit den Kosten werden solle. Aber sie kämen noch „recht glimpflich“ davon, sagt sie. Ihr Mann, auch Musiker, hat ein festes Einkommen und sie als Dozentin an der Musikhochschule ebenfalls. Außerdem gibt sie Privatunterricht, hat es den Schülern aber freigestellt, ob sie die Stunden wahrnehmen wollen oder nicht. Sie nutzt die Zeit jetzt, Liegengebliebenes am Schreibtisch aufzuarbeiten. Und eigentlich könnte man die Pause als Gelegenheit zum Innehalten begreifen und sich Gedanken machen, was einem wichtig sei und worauf man Zeit verwenden wolle, sagt sie: „Es ist eine tolle Chance.“ Lesen Sie auch: Mehr Nachrichten aus der Welt der Kultur Kolumne Zeitvertreib: Endlich den Schatz heben Die LN-Themenseite mit allen Artikeln zum Thema Corona Coronavirus in und um Lübeck: Diese Texte sollten Sie gelesen haben Coronavirus in SH: Das ist die aktuelle Zahl der Infizierten Liveblog zur Corona-Krise: Das ist die Lage in Lübeck und Schleswig-Holstein Alle aktuellen Informationen aus Deutschland und der Welt im Live-Blog Coronavirus posthum nachgewiesen: UKSH Lübeck meldet ersten Todesfall Landtag will wegen Corona 500 Millionen Euro Nothilfeprogramm beschließen Im LN-Live-Interview: Bürgermeister Lindenau antwortet auf die wichtigsten Fragen zum Coronavirus in Lübeck Schutz vor dem Coronavirus: Apotheken installieren Scheiben Coronavirus: Schleswig-Holstein macht zu – Touristen müssen draußen bleiben Ikea schließt alle Filialen Shutdown wegen Corona: Schleswig-Holstein fährt das öffentliche Leben herunter Von der Schule in die Klinik: Pflegeschüler helfen in Krankenhäusern mit Home-Office und Co.: So reagieren Lübecker Unternehmen Darum sind die Standorte der Corona-Diagnostikzentren geheim Wegen Corona: Urlauber müssen Fehmarn verlassen Wegen Coronavirus: Deutschland schließt seine Grenze zu Dänemark In der Krise zusammenhalten: So helfen sich Nachbarn in Lübeck gerade gegenseitig Wegen Coronavirus: Land verbietet alle Veranstaltungen Abgesagte Lehrveranstaltungen: Hochschulen setzen auf Online-Betrieb Wegen Coronavirus: Schleswig-Holstein stundet Firmen in Not die Steuerschuld Coronavirus: Lübecker Krankenhaus verbietet Besuche Wegen Corona: Lübecks Busfahrer sollen „Schutzzone“ bekommen VfL Lübeck-Schwartau: Sechs Wochen Spielpause, 80 000 Euro Verlust, Zwangsurlaub Quarantäne – was bedeutet das für mich? Lübecker Ärzte: „Bei Coronavirus-Verdacht erst anrufen!“ Von Svea Regine Feldhoff, Peter Intelmann, Petra Haase

Corona bedroht Kreative - Künstler in Zeiten von Corona: Keine Auftritte - keine Gage