„Eine Art Internationale der Populisten“

Was würde Willy Brandt heute zu Europa sagen? Mehr Demokratie wagen? Nein, der Mangel an Demokratie ist nicht so groß, die Probleme sind viel schwieriger. Es bleiben momentan nur Emmanuel Macron und Angela Merkel, die wirklich europäisch eingestellt sind. Das ist schon fast alles. Italien ist vorläufig verloren, Polen und Ungarn sind so gut wie weg. Und Großbritannien behauptet, weg zu wollen, aber daran glaube ich nicht. Ein Rücktritt vom Brexit? Ich denke, es wird ein zweites Referendum geben. Bis jetzt hat ja noch nicht mal Premierministerin Theresa May verstanden, was sie alles verlieren wird. Man kann nicht gleichzeitig drinnen und draußen sein. Ich habe lange mit dem EU-Unterhändler Michel Barnier gesprochen. Er sagt, die Briten seien total unvorbereitet. Man müsse 800 kleine Verträge auflösen, aber das wüssten sie nicht. Die Europäer kämen mit ausgearbeiteten Dossiers in die Verhandlungen, die Briten kämen oft ohne alles. Joschka Fischer hat gesagt, Deutschland und Frankreich sollten führen in Europa und die anderen sich anschließen oder nicht. Ein Europa mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten war ja schon ein Gedanke des früheren Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Die Frage für mich ist heute, ob man wirklich Mittel findet, Polen und Ungarn zu bestrafen. Sie bekommen Milliarden aus Brüssel, wollen aber ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Erleben wir gerade das endgültige Ende der Volksparteien in Europa? In Frankreich sind die ehemals großen Sozialisten bei der Präsidentschaftswahl bei sechs Prozent gelandet. Das wäre heute noch viel. Und wie viel Prozent bekäme die SPD, wenn jetzt in Deutschland gewählt würde? Ich glaube, es ist ein allgemeines Phänomen. Und es liegt mit daran, dass alle sozialdemokratisch geworden sind. Angela Merkel ist eine Sozialdemokratin. Wozu braucht man dann noch eine sozialistische Partei? Das ist unumkehrbar? Es ist zumindest sehr schwer. Und die Parteien tun auch wenig, um Männer und Frauen herauszuarbeiten, die die Herzen der Menschen erreichen. In Deutschland habe ich zum Beispiel immer noch nicht verstanden, warum Heiko Maas Außenminister geworden ist. Sie wären für Sigmar Gabriel? Ja. Wer hat ihn ermordet? Verdächtigt werden zumindest Andrea Nahles und Olaf Scholz. Das erinnert mich an Kurt Beck. Der kam aus der Provinz und wurde in Berlin kaputt gemacht. Im Mai 2019 sind Europawahlen. Erleben wir da einen Durchmarsch der Rechtspopulisten auf breiter Front? Ich fürchte. Es gibt eine Art Internationale der Populisten mit Marine Le Pen in Frankreich, der AfD in Deutschland, den rechten Kräften in Italien, und alle zusammen sind etwas. Da haben die Europäer nicht genügend erklärt, was wir an Europa haben. Freies Reisen, eine einheitliche Währung – das gilt alles als selbstverständlich. Und mit Jean-Claude Juncker steht ein Mann an der Spitze der EU-Kommission, der als Premier von Luxemburg jahrzehntelang die schlimmsten Finanzgeschichten gedeckt hat. Gibt es überhaupt etwas, was Ihnen Hoffnung macht in Europa? Eine Unmenge. Es gibt so viele Dinge in Europa, die gut funktionieren und Fortschritt bedeuten. Aber das wird auch von den Medien nicht entsprechend gewürdigt. Man könnte Trump und Putin fast schon Freunde Europas nennen, weil sie mit ihren Angriffen verdeutlichen helfen, was wir an Europa haben. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ jüngst haben Sie gesagt, ohne die EU hätte es keine deutsche Einheit gegeben. Das war auch der Standpunkt von Willy Brandt. In seiner großen Rede als Alterspräsident der ersten Sitzung des vereinheitlichten Bundestags am 20. Dezember 1990 hat er das noch einmal verdeutlicht. Sind Sie froh, dass Frau Merkel wieder regiert? Ja. Aber ich bedaure die SPD, die wieder nur der Juniorpartner in der Großen Koalition sein wird und zusehen muss, wie man jeden Erfolg der Kanzlerin zurechnet. Was mir wirklich Angst macht, ist Innenminister Horst Seehofer. Ich weiß nicht, was bei der CSU noch das C rechtfertigt. Fehlt der SPD jemand wie Willy Brandt? Ja. Auch Gerhard Schröder wäre nicht schlecht gewesen. Allerdings hatte Willy Brandt sicher Führungstalent, aber er war nicht so gut und so schöpferisch, wie es oft behauptet wird. Es gibt auch einen Mythos Willy Brandt. Trotzdem war er ein guter Kanzler. Und er hatte die gute Unterstützung einer Partei. Jetzt aber gibt es niemanden in der SPD, der Kanzler werden könnte. Ich würde sagen: Frau Merkel ist mächtiger als vorher. Das stärkt meine Bewunderung für ihre Talente. Interview: Peter Intelmann Alfred Grosser (93) wurde in Frankfurt am Main geboren und floh 1933 mit seiner Familie nach Frankreich. Der Politikwissenschaftler lehrte am Institut d’études politiques in Paris, wo er heute als Publizist lebt. Er setzte sich immer für die deutsch-französische Verständigung ein. Sein jüngstes Buch „Le Mensch. Die Ethik der Identitäten“ (288 S., 24,90 Euro) ist 2017 im Dietz-Verlag erschienen. Die Rede Alfred Grossers am 27. März im Lübecker Kolosseum entfällt. Es gibt keinen Ersatztermin. LN