Feuilletonisten an der Macht

Journalisten hatten für kurze Zeit in einem Flächenstaat die Macht übernommen: Kurt Eisner, Erich Mühsam, Gustav Landauer, Silvio Gesell, Ernst Toller und Ret Marut alias B. Traven waren die prägenden Revolutionäre und Volksbeauftragten jener kurzen Phase von November 1918 bis Frühsommer 1919, als eloquente Intellektuelle die Wirklichkeit in Bayern gestalteten: Erich Mühsam war von 1911 bis 1914 verantwortlicher Herausgeber von „Kain“, der „Zeitschrift für Menschlichkeit“. Kurt Eisner, der kurzzeitige Ministerpräsident, hatte als Chefredakteur und im Feuilleton für den sozialdemokratischen „Vorwärts“ und eine Reihe bayrischer Tageszeitungen gearbeitet. Ret Marut, der später als B. Traven mit seinem Roman „Das Totenschiff“ weltberühmt werden sollte, war bisher als Provinzschauspieler durchs Deutsche Reich getingelt und gab seit 1917 die Zeitschrift „Der Ziegelbrenner“ heraus. Gustav Landauer, der klarste politische Kopf, war unter anderem Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus gewesen und hatte über Jahrzehnte als Redakteur die sozialistisch-anarchistische Szene in Deutschland geprägt. Auch Silvio Gesell hatte bis 1918 den größten Teil seines Arbeitslebens als Korrespondent oder Redakteur volkswirtschaftlicher Zeitschriften verbracht. Als die Revolution sie kurzzeitig an die Macht spülte, waren sie überrascht und auch ein wenig naiv. Kaum einer von Ihnen hatte praktische Erfahrung mit dem Regieren. Sie hatten bisher vor allem kommentiert. Thomas Mann nennt die Revolution „Faschingsersatz“. Und in der Tat: Weltfremdheit, Aberwitz, Unprofessionalität aber auch ungeheure politische Phantasie kennzeichnen die Feuilletonisten an der Macht. Ministerpräsident Kurt Eisner strebt eine neue, permanente Demokratie an: „Wir wollen die ständige Mitarbeit aller Schaffenden in Stadt und Land.“ Er fordert die Presse auf, in ihren Druckerzeugnissen auf die Erwähnung von jeglicher Form von Kitsch, Operette, Tingeltangel zu verzichten und nur noch die wahre große Kunst zu besprechen. Ein Theaterkritiker als Ministerpräsident. Im Mai 1919 erobern „weiße“ Konterrevolutionäre München und richten ein Blutbad an. Machtmenschen übernehmen die Regierung. Weidemanns Buch endet mit einem Besuch in „Villa Gesell“, einem beliebten Urlaubsort in Argentinien, den Carlos Gesell, Silvios Sohn, nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte. Der Finanzminister der Münchner Räterepublik hat Deutschland und Europa von allen journalistischen Revolutionären wohl am nachhaltigsten geprägt. „Schrumpfgeld“ wollte er einführen, um Stockungen des Wirtschaftskreislaufs aufzulösen und so den Konsum und die Produktion anzukurbeln. Geld müsse nach seiner Auffassung „rosten“. Lange Zeit wurde Silvio Gesell bekämpft, oft belächelt. Doch inzwischen wird er von der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds zur theoretischen Begründung des Negativzinses herangezogen. Im März 2014 hielt das französische EZB-Direktoriumsmitglied Benoit Coeuré die Rede „Leben unter Null. Über negative Zinsen lernen“. Darin erklärt er, dass die inzwischen eingeführte Politik der Negativzinsen auf Silvio Gesell zurückgehe. Und so hat der kurzzeitig regierende Finanzkommissar der Münchner Räterepublik die Anregung für das vielleicht größte wirtschafts- und gesellschaftspolitische Experiment des 21. Jahrhunderts gegeben. Volker Weidermann: „Träumer“. Als die Dichter die Macht übernahmen. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2017. 288. S. geb. 22 Euro Von Christian Schwandt

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