Howard Carpendale: „Im Grunde glaube ich, dass die Gesäßmuskeln das Allerwichtigste am Körper sind“

Vor Kurzem hat Howard Carpendale seine größten Hits und ausgewählte Titel noch mal als „Symphonie meines Lebens“ aufgenommen. Geht alles gut, tritt er am 10. November dieses Jahres in der Hamburger Barclaycard Arena auf. Herr Carpendale, vergleicht man die neuen Orchester-Versionen mit den Originalen, fällt auf: Sie singen heute viel besser als in den Siebzigern. Vielen Dank, und wissen Sie was: Ich finde das auch. Damals habe ich noch gar nicht verstanden, was ich da sang. Ich habe jedes Wort phonetisch gelernt. Auf den Symphonie-Alben bin ich von meiner Gesangsleistung jetzt endlich dort angekommen, wo ich immer hinwollte. Auch wenn sich das komisch anhört von jemandem, der seit fünfzig Jahren dabei ist. Auf den Neuaufnahmen etwa von „Du fängst den Wind niemals ein“ oder „Da nahm er seine Gitarre“ klingen Sie persönlicher und näher dran. Die Lieder haben eine wunderbare Wärme. Man hört ihnen die vielen Jahre auf dem Buckel nicht an. Ich habe gemerkt, dass es ein sehr großer Unterschied ist, mit einem Orchester zu singen. Ich habe einen ganz neuen Flow in der Stimme, viel mehr Nuancen und Interpretationsmöglichkeiten. Das Orchester hat mich motiviert, noch mehr aus meinem Gesang herauszuholen. Was ich hier mache, das hat mit der gesanglichen Eintönigkeit des typischen deutschen Partyschlagers nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun. „Wie frei willst du sein“ ist ein Duett mit Kerstin Ott. Sie beide kennen sich schon von „Wegen dir (Nachts, wenn alles schläft)“. Wir sind Freunde geworden. Irgendwann kam sie auf mich zu und hat mich gefragt, ob sie mich drücken dürfte. Sie durfte. Ein paar Wochen später trafen und drückten wir uns wieder. Als ich sie fragte, ob sie einen Titel mit mir singen wollte, war ich überrascht, dass sie sich „Wie frei willst du sein“ ausgesucht hat. Ich finde, unsere Version ist sehr schön geworden. Was ist die Geschichte hinter dem Lied? In den Siebziger Jahren war es in einer Partnerschaft gang und gäbe zu sagen „Ich brauche mehr Platz“. Als meine damalige Frau Claudia zu mir meinte, sie könne sich mehr Freiheiten vorstellen, erzählte ich das dem Songtexter Fred Jay, und er fragte „Wie frei will sie sein?“ So ist dieser Text entstanden. Wollte Ihre Ex-Frau freier sein als Sie? Ach, das ist über vierzig Jahre her. Die genauen Worte, die gefallen sind, weiß ich nicht mehr. Unsere Ehe hat sieben Jahre lang gehalten. Und wir sind immer noch dicke Freunde. Die ganze Familie ist eine starke Gemeinschaft. Wie wichtig ist es Ihnen, auch innerhalb einer Beziehung sein eigenes Ding zu machen? Ich denke, nur zwei freie Menschen können einander wirklich lieben. Abhängigkeit ist nie gut. Stand eigentlich immer fest, dass es schnell einen zweiten Teil des Albums geben würde? Nein. Wir haben das bei einem langen Gespräch mit der Plattenfirma beschlossen. Die waren etwas überrascht und erfreut, dass sie mich gar nicht überreden brauchten, sondern dass ich nichts lieber tun würde, als noch mal mit diesem Orchester zusammen zu arbeiten. Für die Musiker waren die vergangenen Monate dramatisch. Zum ersten Mal nach vier, fünf Monaten Pause hat das Orchester auf meinem Album wieder zusammengespielt. Die Lage ist dramatisch. Der Arrangeur fürchtet, dass das Royal Philharmonic Orchestra wegen Corona vielleicht schließen muss. Die haben alle nichts zu tun. In den Londoner Abbey Road Studios waren Sie dieses Mal vermutlich nicht, oder? Nein, ich habe meinen Gesang in einem Münchner Studio aufgenommen. Und auch das Orchester selbst musste – wegen der Abstandsregeln - in zwei Gruppen einspielen, einmal die Bläser, einmal die Streicher. Wir haben sehr viel telefoniert und Digitalaufnahmen hin und her geschickt. Es war gut, dass wir beim ersten Album schon Erfahrungen zusammen gesammelt hatten. Der erste Teil der „Symphonie des Lebens“ war und ist sehr erfolgreich und seit einem Jahr in den Charts. Sie wären jetzt eigentlich gerade auf Tournee. Ich hatte in meiner Karriere seit 1966 tolle Phasen und auch manchmal schwierigere Zeiten... Wir haben die Tour aufgrund der aktuellen Situation in den Herbst 2021 verschoben, und ich bin absolut 50:50 mit meinem Gefühl, ob sie stattfinden kann oder nicht. In der neuen Version Ihres Liedes „Ein paar sind immer über den Wolken“ besingen Sie unter anderem Barack Obama. Vermissen Sie ihn? Auch Obama war kein perfekter Präsident. Aber er hat Charme, strahlt Ruhe und Souveränität aus und weiß bis heute, wie man ein Publikum erobert. Showgeschäft und Politik liegen in vielen Dingen nah beieinander. Angela Merkel macht einen tollen Job, aber sie ist keine Motivationsgöttin. Und wer soll eigentlich ihr Nachfolger werden? Markus Söder hat eine Weile einen starken Eindruck gemacht. Friedrich Merz hat Ahnung von Wirtschaft, aber er verkauft sich aus meiner Sicht sehr schlecht. Den Idealkandidaten sehe ich aktuell nicht. Was können Sie als Künstler tun, um die Stimmung zu heben? Tatsächlich berühren meine Orchester-Alben die Leute sehr. Viele Menschen haben einen Hunger nach Nostalgie, das merke ich an den Reaktionen in den sozialen Medien. Wir Künstler spielen gerade jetzt eine große Rolle dabei, dass die Menschen die Welt noch als normal empfinden. Aber was ist überhaupt normal? Wie meinen Sie das? Die Probleme, die durch Corona entstanden sind, werden uns lange beschäftigen. Wird das Publikum bereit sein, wieder auszugehen, wenn Corona vorbei ist? Gewöhnt man sich vielleicht an das andere Leben, an die Isolation? Der Motor der ganzen Gesellschaft muss irgendwann wieder gestartet werden. Und ich befürchte, wir werden wirtschaftlich eine sehr harte Zeit erleben, mit hunderttausenden von Pleiten. Besonders zuversichtlich klingen Sie wirklich nicht. Ich würde gerne hier sitzen und sagen „Alles ist wunderschön“. Ich denke gerne positiv. Aber ich bin Realist, kein Träumer. Im Moment habe ich Angst. 2003 haben Sie sich freiwillig von der Bühne verabschiedet. Jetzt werden Sie zu einer Zwangspause von unbekannter Dauer genötigt. Was macht Ihnen mehr zu schaffen? Die Entscheidung damals entstand aus dem Gefühl heraus, dass ich auch andere Seiten des Lebens kennenlernen wollte. Ich hatte alle Hallen gefüllt, von denen ich je geträumt hatte. Ich wollte wissen, wie ein anderes Leben, in einem anderen Land, aussehen könnte und zog nach Florida. Dann kamen einige Sachen zusammen: Die Alkohol-Krankheit meiner damaligen Partnerin und heutigen Ehefrau Donnice, auch Probleme mit Wirtschaftsberatern – da bin ich in eine schwere Depression gefallen. Die heutige Situation dagegen betrifft uns alle, und theoretisch könnte ich sie aussitzen. So kann man aber nicht abtreten. Sehr ungern. Viele Menschen haben in der Corona-Krise neue Hobbys und Leidenschaften entwickelt. Sie auch? Ich habe zwölf Kilo abgenommen! Als klar war, dass wir nicht groß reisen können, habe ich beschlossen, was für meinen Körper zu tun. Ich halte nichts von Diäten, ich habe einfach Kalorien gezählt. Pro Tag nehme ich jetzt 1500 Kalorien zu mir und stelle fest, dass das vollkommen ausreicht. Sie essen so wie immer, nur weniger? Ich trinke nur noch Cola ohne Zucker, esse viel wilden Reis, dazu kocht Donnice gutes Gemüse und etwas Fleisch, vor allem Hühnchen. Mir fällt es überhaupt nicht schwer, mich beim Essen einzuschränken. Ich bin allerdings statistisch gesehen immer noch zu kräftig. Wie lenken Sie sich ab? Ich lese viel und schaue mir gerade alle Staffeln von „Breaking Bad“ an. Donnice und ich machen jetzt außerdem Yoga zusammen. Ach, echt? Das war die Idee meiner Ex-Frau. Da sehen Sie, wie gut wir miteinander auskommen (lacht). Die Familie macht sich Sorgen, dass der Verlust meiner größten Leidenschaft, dem Live spielen, mich in eine Situation bringt, in der ich traurig und antriebslos werde. Aber im Moment geht es mir gesundheitlich sehr gut. Im September beginnt die Tour von Howard Carpendale, am 10. November ist er in Hamburg – wenn Corona es zulässt Nahezu jede CD-Veröffentlichung erreichte in Deutschland Charts-Spitzenplätze, seine Tourneen sind stets ausverkauft. Mit Evergreens wie „Hello Again“, „Tür an Tür mit Alice“, „Ti Amo“ oder „Das schöne Mädchen von Seite eins“ schrieb er deutsche Schlager-Geschichte. Am Herzen liegt ihm zurzeit sein jüngstes Album „Symphonie meines Lebens 2“. Darauf interpretiert Carpendale seine größten Erfolge – gemeinsam mit dem britischen Royal Philharmonic Orchestra. Ist Yoga für Sie neu? In Amerika habe ich viel Yoga gemacht. Das Praktische ist, dass meine Frau und ich das gut zusammen machen können. Überhaupt halte ich von Dehnungsübungen sehr viel. Ich dehne meinen Körper jeden Abend, bevor ich ins Bett gehe. Sie machen Gymnastik? Ja. Meinem Gefühl nach ist es ganz wichtig, an der unteren Körperhälfte zu arbeiten. Beine, Becken, Hüfte, Adduktoren. Gerade für jemanden, der Golf spielt, ist es wichtig, gut gedehnt zu sein. Im Grunde glaube ich, dass die Gesäßmuskeln das Allerwichtigste am Körper sind. Sie sind der Mittelpunkt, sie sorgen für die Haltung. Bekommt es Ihnen und Ihrer Frau, dass sie coronabedingt fast ständig zusammen sind? Die Liebesbeziehung zwischen meiner Ehefrau und mir ist sehr ungewöhnlich. Wir sind seit vierzig Jahren zusammen, hatten schwierige Jahre dazwischen, seit fünf Jahren sind wir sehr glücklich. Wir haben eine tolle Beziehung ohne jeden Streit. Wir haben vorhin über Freiheit gesprochen. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ein Mensch so nah bei mir leben könnte, ohne dass es knirscht. Donnice und ich sind wirklich auf einer Wellenlänge. Unsere Liebe ist sehr, sehr schön. Lesen Sie auch „Hamburg Calling“ – Punk und Wave an der Elbe Bildband über die Gesichter der Pandemie in Schleswig-Holsteins Kulturszene Es hilft nichts, wir müssen es ansprechen: Sie werden im 75 Jahre alt. Also, die Zahl bedeutet mir gar nichts. Für mich ist es total wichtig, Umgang mit jungen Menschen zu haben. Kerstin Ott schrieb jetzt im Internet, sie liebe meinen Humor. Das tut gut. Ich möchte jung bleiben. Ich will keiner dieser alten Typen sein, die stur und festgefahren sind in ihrer Meinung und die nicht mehr bereit sind, einen Schritt auf andere zuzugehen. Von dieser Sorte älterer Leute kenne ich genug. Was sind, abgesehen davon, endlich wieder auf die Bühne gehen zu können, Ihre Ziele? Ich könnte locker noch fünf Jahre von der Nostalgie leben, aber ich bekomme schon wieder Lust, etwas Neues zu machen. Vielleicht ein Album mit Welthits anderer Künstler, gern wieder mit dem Royal Philharmonic Orchestra. Ich wäre nicht zufrieden, wenn ich nur irgendwo herumsitze. Ich will aktiv bleiben und wäre froh und dankbar, wenn ich noch viele Jahre leben darf. Von Steffen Rüth