Internet als Sucht der Zukunft? Interview mit dem Lübecker Psychologen Hans-Jürgen Rumpf

Dr. Hans-Jürgen Rumpf ist Privatdozent an der Universität zu Lübeck und Leitender Psychologe an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Wie viele Menschen in Deutschland sind onlinesüchtig? Laut unserer Pinta-Studie etwa ein Prozent der Bevölkerung zwischen 14 und 64 Jahren. Das sind rund 540 000 Personen. Vielleicht sind es mittlerweile auch zwei Prozent, da einige Untersuchungen zeigen, dass die Zahlen ansteigen. Was sich nicht umkehren lässt. Ganz gewiss nicht. Zumal mit den künftigen neuen technischen Möglichkeiten auch neues Suchtpotenzial entsteht. Im Durchschnitt greift ein Jugendlicher heute etwa 200 Mal am Tag zum Smartphone – eine ungeheure Zahl, oder? Es gibt dazu unterschiedliche Studien, aber das liegt im Rahmen. Jugendliche sind laut Untersuchungen drei bis vier Stunden täglich im Netz, und zwar nicht am Stück, sondern immer wieder. Was man früher zum Beispiel in ein längeres Telefonat gepackt hat, wird heute aufgesplittet und wird auch oft gleichzeitig mit mehreren Personen geteilt. Internetabhängigkeit ist erstmals 1995 erwähnt worden. Inzwischen hat die Weltgesundheitsorganisation Computerspielsucht als Krankheit anerkannt und in den Katalog ICD-11 aufgenommen, der unter anderem Krankenkassen als Grundlage für die Kostenübernahme von Behandlungen dient. Hans-Jürgen Rumpf war als einer von zwei deutschen Wissenschaftlern daran beteiligt. 2014 haben sich die internationalen Forscher zum ersten Mal getroffen. Die Spieleindustrie habe große Anstrengungen gegen das Vorhaben unternommen und sehe es immer noch als falsche Maßnahme an, sagt der Lübecker Psychologe. Bei anderen Bereichen wie den sozialen Netzwerken gebe es Hinweise auf eine Sucht, aber da lägen noch zu wenig Daten vor. Bei den sozialen Netzwerken sind vor allem Mädchen und junge Frauen betroffen, bei den Spielen Jungen und junge Männer. Generell betrifft Internetsucht alle Schichten. Laut der Drogenbeauftragten der Bundesregierung gibt es in Deutschland 270 000 Kinder und Jugendliche mit „internetbezogenen Störungen“. Zehn Nachrichten für eine Verabredung: Da könnte man fast vom Verlust einer Kulturtechnik sprechen. Ist das ein Verlust? Oder ein Gewinn? Man erhält ja dafür die Möglichkeit, gleichzeitig mit mehreren Menschen zu kommunizieren. Dadurch haben sich aber auch neue Phänomene entwickelt: Zum einen „Social Zapping“, man sucht sich also wie beim Fernsehen das heraus, was gerade am interessantesten erscheint, und sagt auch unter Umständen Verabredungen in letzter Minute ab, weil man etwas Spannenderes gefunden hat. Zum anderen „FOMO“, was „Fear of missing out“ bedeutet, also die Angst, gerade irgendwo etwas zu verpassen. Und „FOMO“ kann durchaus Verbindungen zum süchtigen Verhalten haben. Da fängt die Sucht schon an? Dadurch kann eine Entwicklung begünstigt werden. Für eine Scht sind aber drei Merkmale entscheidend: Zum einen kann nicht mehr kontrolliert werden, wann, wie lange und in welchen Situationen man etwas tut. Zum anderen gewinnt etwas eine übermächtige Bedeutung im Leben, dem alles andere untergeordnet wird. Und drittens macht man etwas auch dann weiter, wenn es negative Folgen hat. Ähnlich wie beim Heroin: Da unterscheidet sich das Internet nicht vom Heroin? Das sind genau die Merkmale, die auch für andere Süchte gelten. Und die Befreiung davon ist beim Internet ähnlich schwierig wie beim Heroin? Es gibt dazu noch nicht viele Studien. Aber es zeichnet sich ab, dass die Verläufe ähnlich sind. Und es gibt ähnlich hohe Rückfallquoten. Nomophobie ist die Angst, ohne Smartphone zu sein. Eine berechtigte Angst? Nomophobie wird oft mit Smartphonesucht gleichgesetzt, wobei der Begriff fragwürdig ist. Es sind ja immer die Apps, die Anwendungen, nicht das Gerät selbst. Nomophobie habe ich auch. Aber ich habe auch Angst, wenn ich meinen Schlüssel oder mein Portemonnaie nicht dabeihabe. Wir haben unsere Termine im Handy, unsere Kontakte, wir bezahlen damit, machen Online-Banking, buchen Reisen – das Smartphone ist für viele einfach ein ganz wesentliches Element ihres Alltags. Ein Allzweckhandwerkszeug jenseits von einer Sucht. Technologien, die wir noch gar nicht erahnen: Wird Internetsucht die Sucht der Zukunft? Ich denke ja. Gerade weil wir noch sehr am Anfang der technischen Entwicklung stehen. Es ist ja noch nicht so lange her, dass wir Telefone mit Wählscheiben hatten. Die Entwicklung ist rasant. Es wird ganz neue Technologien geben, die wir jetzt noch gar nicht erahnen. Bricht da etwas Furchtbares über uns herein? Es wird Neuerungen geben, neue Faszinationen und auch Menschen, die diesen Faszinationen erliegen und eine Sucht entwickeln. Aber es wird vermutlich nicht große Bevölkerungsschichten betreffen. Deutlich mehr als 95 Prozent der Menschen gehen sehr sorgsam mit der digitalen Technik um. Wer 200 Mal am Tag zum Smartphone greift, ist noch nicht abhängig? Das ist nicht das entscheidende Merkmal. Man kann auch das Wochenende durchspielen und am Montag pünktlich zur Arbeit erscheinen. Neben den drei Kriterien der Sucht ist ausschlaggebend, dass das Online-Verhalten zu einer Beeinträchtigung in der Lebensbewältigung führt. Areale im Gehirn vergrößert: Aber ist es nicht gespenstisch, wenn am Nebentisch sechs junge Leute sitzen und jeder guckt stumm auf sein Smartphone? Das mag befremden, aber wir wissen in vielen Fällen noch gar nicht ganz genau, ob es auch zu negativen Konsequenzen führen wird. Wir wissen zwar zum Beispiel, dass die Gehirnareale für die Daumen bei der jungen Generation vergrößert sind. Oder dass zu früher und zu langer Umgang mit Bildschirmen zu Kurzsichtigkeit führen kann. Viele andere Konsequenzen sind noch kaum erforscht. Ganz sicher ändert sich die Art, wie wir kommunizieren, aber das muss nicht immer negativ sein. Sie betrachten die Entwicklung ohne Kulturpessimismus? Grundsätzlich ja. Wir haben durch die neuen Medien so viele Möglichkeiten gewonnen, dass man eher von einem Kulturwandel sprechen kann. Die Optionen jedenfalls sind – bei allen Risiken – großartig. Dann ist es die Nörgelei der Älteren, die die Jungen immer schon nicht verstanden haben? Es ist oft die Sorge vor dem Unbekannten. Man hat ja auch bei der massenhaften Verbreitung der Telefone gewarnt, Teenager könnten telefonsüchtig werden. Beim Fernsehen war es ähnlich. Und als Gutenberg den Buchdruck erfand, sorgten sich die Kirche und andere Mächtige über die Konsequenzen, wenn jeder plötzlich alles lesen könne. Natürlich gilt es dennoch Gefahren früh zu erkennen und Abhilfe zu schaffen. Ein paar Klicks, und jeder sieht toll aus: Was auffällt: Jeder will individuell sein, vergleicht sich aber ständig in den sozialen Netzwerken. Es ist in der Tat ein neues Phänomen, dass man sich seinen Selbstwert im Netz selbst gestalten kann. Ein paar Klicks, und dann sieht man auf allen Fotos großartig aus. Und weil das alle machen, glaubt man, alle sehen toll aus und erleben spannende Dinge. Der Vergleich mit der eigenen Person kann Menschen verunsichern und bei einem Teil auch zu Ängsten und Depressionen führen. Aber glauben die das wirklich? Zumindest sind Menschen mit geringem Selbstwertgefühl anfällig dafür. Wenn man sich die Millionen Follower mancher Influencer im Internet ansieht, muss die Republik voll sein von Menschen mit einer Ich-Schwäche. Man kann das nicht verallgemeinern. Da spielt auch schlichte Neugier eine Rolle. Das ist so ähnlich wie bei den Yellow-Press-Magazinen. Durch die Technik heute ist das alles nur potenziert. Gehirn muss reifen: Aber da passiert doch etwas mit einem. Man lebt in einer Parallelwelt. Die entsteht auf jeden Fall. Problematisch wird es aber erst, wenn diese beherrschend wird. Da sind junge Menschen gefährdeter, weil der präfrontale Cortex im Gehirn erst mit Anfang 20 als Letztes reift und für die Handlungssteuerung zuständig ist. Kontrollverlust und suchtartiges Verhalten können sich dadurch bei Jugendlichen leichter entwickeln. Vieles wächst sich also aus? Bei den meisten ist da so. Der weitaus kleinere Teil entwickelt Probleme. Dennoch darf man es in keiner Weise bagatellisieren. Wenn man nur ein halbes Jahr seiner Entwicklung verliert, kann das später gravierende Folgen haben. Vor allem ist es gefährlich, kleinen Kindern ein Smartphone zu geben, um sie ruhig zu stellen. Kinder müssen auch mal wütend sein oder schreien und dann sehen, was passiert. Jeder muss lernen, seine Emotionen zu regulieren. Aber diese Fähigkeit fehlt oft bei Menschen, die suchtkrank sind. Unter drei Jahren sollten Kinder möglichst überhaupt keine digitalen Medien nutzen. Es kann mehr schaden als nützen. Dennoch gehen Sie bemerkenswert gelassen um mit der digitalen Bedrohung. Ich sehe schon Missbrauch und abhängiges Verhalten. Aber ich sehe auch, dass vor allem Ältere die Entwicklung als fremd erleben. Und nicht alles Fremde muss schlecht sein. Meine Gelassenheit rührt auch daher, dass wir es ja auch nicht ändern können. Man kann die Uhr nicht zurückdrehen. Und Panik hat noch selten genützt. Das könnte Sie auch interessieren: Verändern Smartphones unser Gehirn? Von Peter Intelmann

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