Lübeck: Als die Großmutter von Jan Schenkenberger BDM-Führerin war

Der Tischnachbar von Marianne Lensch war seltsam. Man hatte sie zu einem Abendessen eingeladen, die Lübecker Parteileitung der NSDAP hatte um zivile Kleidung gebeten. Und jetzt saß sie hier neben einem Mann mittleren Alters, aus dem sie nicht schlau wurde. Einsilbig sei er gewesen, „zitternd vor Nervosität, ich hielt ihn für sehr krank“. Volksgerichtshof in Lübeck: Er sei mit „einer Kommission aus Berlin“ gekommen, erinnerte sie sich. Man habe ihn ihr nicht vorgestellt. Aber diese Kommission war tatsächlich ein Senat des Volksgerichtshofs. Er hatte im Juni 1943 in Lübeck getagt und vier Geistliche zum Tode verurteilt, die Lübecker Märtyrer. Und der Mann neben ihr am Tisch sei Roland Freisler gewesen, Präsident des Volksgerichtshofes, der furchtbarste unter den furchtbaren Juristen. „Er hatte die Verhandlung gegen die Pfarrer geleitet, die alle zum Tode verurteilt wurden.“ Der Bund Deutscher Mädel (BDM) wurde 1930 gegründet und der Hitlerjugend eingegliedert. 1936 wurde die Mitgliedschaft zur Pflicht. Für die zehn- bis 13-Jährigen gab es den Jungmädelbund, für die 14- bis 17-Jährigen den Bund Deutscher Mädel. 1938 kam das BDM-Werk „Glaube und Schönheit“ für die Älteren bis 21 Jahre hinzu. Nach 1939 entwickelte er sich zusehends zu einer Kriegshilfsorganisation. Marianne Lensch war die Großmutter des Lübeckers Jan Schenkenberger. Sie ist vor zehn Jahren gestorben und wäre im Februar 100 Jahre alt geworden. Sie hat ihm eine Geschichte hinterlassen, aber die ist undurchsichtig und lückenhaft. Sie war Funktionärin beim BDM, dem Bund Deutscher Mädel. Später hat sie sich davon distanziert, auch in einer Bilanz, die sie 40 Jahre nach dem Krieg schriftlich gezogen hat. Aus ihr stammt auch die Beschreibung des Abends mit Freisler. Aber wie sehr man dieser Bilanz trauen kann, ist fraglich. Aber wie sehr man dieser Bilanz trauen kann, ist fraglich. Der Blutrichter jedenfalls war in Lübeck nicht an dem Prozess beteiligt. Den hat Wilhelm Crohne geführt, sein Stellvertreter. „Eine Art Schweigegebot“: Jan Schenkenberger hat über den Philosophen Karl Löwith promoviert und engagiert sich im Hamburger Landesverbandsvorstand des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, einer den Sozialdemokraten nahestehenden Organisation. Er würde gern etwas über seine Großmutter und den BDM in Schleswig-Holstein veröffentlichen, aber die Faktenlage ist dünn, sagt er. Es sei vieles an Originalunterlagen vernichtet worden. Zudem habe „eine Art Schweigegebot“ geherrscht: „Die Leute haben einfach nicht geredet. Und wer es tat, galt als Verräter.“ Aber die Geschichte lässt ihn nicht los. Deshalb ist er sehr an Zeugnissen aus dieser Zeit interessiert. Lesen Sie auch „Cap Arcona“: Fehler auf dem Grömitzer Ehrenmal entdeckt Digitales Kunst-Projekt zum Todesmarsch 1945 Lübecker Märtyrer: Gedenken in Corona-Zeiten Marianne Lensch war 13, als sie 1933 dem BDM beitrat. Sie stieg rasch auf, wurde Führerin und nach Kriegsausbruch Jungmädel-Untergauführerin in Schleswig. Danach holte man sie in die Zentrale nach Kiel. Man wollte etwas aus ihr machen, schreibt sie, aus ihr, der einzigen schleswig-holsteinischen Bauerntochter, die hauptamtlich beim BDM arbeitete. Aber sie habe nur die Volksschule besucht und sei neben ihrer Kulturarbeit dreimal die Woche frühmorgens in die Universität gegangen. Sie fühlte sich jedoch nicht wohl in Kiel, bat nach zwei Jahren um ihre Versetzung nach Lübeck, in eine Stadt, die zwei Wochen zuvor bombardiert worden war. Was sie jetzt fand, war ein „rauchender Trümmerhaufen“. Ihren Mann Wolfgang Stricker lernte sie 1942 kennen. Sie heirateten im Jahr darauf. Er starb kurz vor Kriegsende beim versuchten Ausbruch aus einem Kessel in Italien. Seine im September geborene Tochter, die Mutter Jan Schenkenbergers, hat er nie kennengelernt. Seine Großmutter habe nach 1945 radikal mit der Vergangenheit gebrochen, sagt ihr Enkel. Sie sei keine Nationalsozialistin mehr gewesen, aber habe manches nicht ablegen können, auch an Ideologie. Seine Mutter habe später gesagt, sie sei nach den Prinzipien von „Glaube und Schönheit“ erzogen worden, dem Bildungswerk des BDM. Das Verhältnis von Mutter und Tochter sei jedenfalls nicht spannungsfrei gewesen. „Sie hat sich geschämt“: Als die Großmutter 2011 mit fast 91 Jahren starb, habe es keine Todesanzeige in der Zeitung gegeben. „In Lübeck kennen mich alle“, habe sie gesagt. „Und ich will nicht, dass alle alten Nazis hinten in meiner Trauerfeier sitzen.“ „Sie hat sich geschämt“, sagt heute ihr Enkel. „Sie hat auch versucht sich reinzuwaschen, vielleicht auch vor sich selbst.“ Info: Wer etwas über den BDM zu erzählen weiß, kann sich mit Jan Schenkenberger in Verbindung setzen: j.schenkenberger@googlemail.com Von Peter Intelmann