Lübeck: Wickert, Lafer, Funke und Liefers drehen Video fürs Grass-Haus

Ulrich Wickert zum Beispiel erzählt die Geschichte von der Leberwurst. Die hatte Günter Grass beim Dorfmetzger in Wewelsfleth für Wickerts Vater Erwin besorgt, denn der war deutscher Botschafter in Peking und hatte Appetit auf Herzhaftes aus der Heimat. Es geht auch noch um ein, zwei Schnäpse zu viel mit anschließendem Schlummer in der Pekingoper, um „Ginseng-Orgien“, und der frühere „Tagesthemen“-Moderator sitzt zu Hause vor der weißen Bücherwand, während er in die Kamera guckt und erzählt. Cornelia Funke erzählt im Video vom ersten Treffen mit Grass: Das Video ist eines von zahlreichen neuen, die das Günter-Grass-Haus im Angebot hat und die seit Sonnabend online auf der Homepage des Hauses und bei Youtube zugänglich sind. Neben Ulrich Wickert sind unter anderem die Schriftstellerin Cornelia Funke und Volker Schlöndorff zu sehen. Der Regisseur hat mit der Verfilmung von Grass’ „Blechtrommel“ 1980 einen Oscar gewonnen und erzählt von einem anderen Film, über den sie nachgedacht hatten. Otto Sander sollte einen Reiseunternehmer spielen, der Übernachtungen in Elendsvierteln anbietet. Das Projekt wurde aber ebenso wenig realisiert wie Grass’ Idee eines Stummfilms über den Wald. US-Autor T. C. Boyle sagt, wie Grass ihn beeinflusst hat: Der US-Schriftsteller T.C. Boyle sitzt in einem sagenhaften Sessel vorm Kaminfeuer und sagt, Grass sei sein erster und tiefster Einfluss gewesen. Stefan Schmidt, Lübecker Kapitän und Flüchtlingsbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein, erzählt, wie Grass ihn und das Rettungsschiff „Cap Anamur“ unterstützt hat. Nina Hoss trägt eine Passage aus dem Roman „Die Rättin“ vor, auch ihre Schauspielkollegen Anna Thalbach und Jan Josef Liefers lesen aus Grass-Werken. Und der Fernsehkoch Johann Lafer bereitet eine Weihnachtsgans à la Grass zu. Grass-Haus-Chef Thomsa: Das Projekt „war ein Höllenritt“: Das alles gehört zum „Virtuellen Archiv“, einem aufwendigen Projekt inklusive 3-D-Animationen. Es erlaubt, den Schriftsteller, Zeichner und bildenden Künstler Günter Grass interaktiv – neu – kennenzulernen. Es ist in kurzer Zeit seit Mitte Oktober mit Hilfe der Lübecker Firmen Die Infografen, Gradwerk und MotionBrain entstanden, sagt Jörg-Philipp Thomsa, der das Grass-Haus seit elf Jahren leitet. „Es war ein Höllenritt für das gesamte Team.“ „Ich mochte ihn sehr“ – Orhan Pamuk über Günter Grass Günter Grass: Vonne Unendlichkait Alte Texte, neue Wege – Lübecker Museen setzen Doppelstrategie fort Man kann natürlich Exponate aus der Sammlung holen, erklärende Sätze dazu schreiben und das dann auf die Internetseite eines Museums stellen, sagt der Museumschef. Das machten sie nach wie vor auch. Aber man könne eine ganze Menge mehr tun. Zumal in Zeiten der Pandemie, wenn die Museumstüren geschlossen seien und niemand wisse, wann sie sich wieder öffnen. Johann Lafer ist einer der prominentesten Köche der Republik, und ein Verehrer von Günter Grass ist er auch. In „Beim Häuten der Zwiebel“ erzählt Grass, wie er 1945 in einem Kriegsgefangenenlager in der Oberpfalz saß und mit ewig hungrigem Magen einem Mitgefangenen lauschte, der einen Kochkurs gab, natürlich ohne Herd und etwas zu kochen. Ein „bessarabischer Chefkoch“ war das, mit Erfahrung im Wiener „Sacher“ und der Weisheit: „Keine Gans ohne Beifuß!“ Johann Lafer hat dann exklusiv fürs Grass-Haus eine Weihnachtsgans mit Rotkohl und Kartoffelklößen bereitet. Also hat er in Berlin Geld beantragt und, als die Zusage von Kulturstaatsministerin Monika Grütters über eine hohe fünfstellige Summe kam, eine Reihe prominenter Leute angeschrieben und gefragt, ob sie mitmachen wollten. Sie wollten alle, „das war überhaupt kein Problem“, sagt er. Ranga Yogeshwar: „Indien hat Grass überfordert“: Einige hat er auch später noch kontaktiert. Den Wissenschaftsjournalisten Ranga Yogeshwar etwa, der jetzt mit Grass’ Indien-Buch „Zunge zeigen“ vor der Kamera sitzt und sagt: „Indien ist eine Überforderung, und ich glaube, Indien hat auch Günter Grass überfordert.“ Dennoch sei Grass jemand gewesen, der „wirklich eintauchen“ konnte. Er habe sich eingelassen auf die „Hyperintensität“ dieser fremden Welt, in der offen zutage liege, was in unseren Breiten hinter Krankenhaus- und Altenheimmauern verborgen werde. Zum Teil und auch wegen des Coronavirus haben sich die Beteiligten zu Hause vor die eigene Kamera gesetzt, andere Videos wurden von einem professionellen Team gedreht. Denis Scheck etwa, renommierter Literaturkritiker und dem Lübecker Museum eng verbunden, sitzt im Grass-Haus auf einem Hocker und bespricht mit großer Kenntnis und feinem Humor eine Reihe von Grass-Werken. „Im Krebsgang“ zum Beispiel aus dem Jahr 2002, einen der größten Erfolge des Nobelpreisträgers. Am ersten Erscheinungstag seien schon 100 000 Exemplare verkauft worden, sagt Scheck. Er habe zur gleichen Zeit „Der menschliche Makel“ von Philipp Roth gelesen, und es habe ihm ungleich besser gefallen. Denis Scheck: Das SS-Bekenntnis ist Grass „um die Ohren geflogen“: „Beim Häuten der Zwiebel“ allerdings von 2006 sei ein großer Wurf geworden, auch wenn das Buch für viele hinter Grass’ darin enthaltenem Bekenntnis zu seiner Zeit in der Waffen-SS verschwinde. „Er hat die Wirkung dieses Geständnisses unterschätzt“, sagt der Kritiker. „Es ist ihm buchstäblich um die Ohren geflogen.“ In „Dummer August“ sei dann nachzulesen, wie schwer Grass an den Verletzungen dieser Debatte getragen habe. Aber man könne auch „einem Weltautor bei der Genesung zusehen, wie er sich die Wunden leckt und selbst heilt“. Und bei Michael Sommer, der auf Youtube sehr erfolgreich Bücher der Weltliteratur im Schnelldurchgang erklärt, kann man Günter Grass als Playmobilfigur sehen. Digitalisierung ersetze nicht den Besuch im Museum, sagt Jörg-Philipp Thomsa. Die „Aura eines Originals“ lasse sich nicht übertragen. Ohne die Orientierung ins Digitale jedoch dürften es Museen künftig sehr, sehr schwerhaben. Man müsse zwar schauen, was zum Haus und zur Sammlung passe, aber es sei ein Irrtum zu glauben, Videos seien nur etwas für Jüngere – „überhaupt nicht“. Von Peter Intelmann