Mit Bach aus der Favela – die Geschichte von Tiago Cosmo

Tiago Cosmo war elf und auf der Suche nach Kräutern für seine Mutter, als er in einen Garten kam. Der Garten gehörte zu einem Sozialprojekt. Es wurde einem dort bei den Hausaufgaben geholfen, es wurde gestrickt – und es gab Musik. Barockmusik. Barockmusik auf Flöten und Geigen. Bach gab es da, Händel, unglaubliche Klänge aus einer anderen Welt. Als Thiago Cosmo sie betrat, machte er die Bekanntschaft mit etwas, das ihn nicht mehr loslassen sollte. Schwarzenbek, Oslo, Rio: Er sitzt jetzt hier in einem Lübecker Café, draußen fällt der Herbstregen schräg gegen alte Kirchenmauern, und er erzählt seine Geschichte. Er macht das mit Karolin Broosch, der Mutter seiner zwei Kinder. Sie war in der Welt von Bach und Händel schon vor ihm zu Hause. Sie ist in Schwarzenbek im Lauenburgischen geboren, hat in Dresden und Norwegen Musik studiert und war als Geigerin mit der Oslo Camerata auf einer Konzertreise in Brasilien. Mit einer Cellistin schaute sie sich das Projekt an, das Tiago Cosmo besuchte und wo sie eine Woche unterrichteten. 2007 war das. So haben sie sich kennengelernt. Im vorigen Jahr sind Tiago Cosmo und Karolin Broosch mit ihrer Familie aus Brasilien nach Lübeck gezogen. Sie sind hier unter anderem als Duo aktiv, Karolin Broosch hat auf Gut Basthorst zudem eine Musikreihe gestartet. Der Mann mit den krausen schwarzen Haaren kommt aus einer Favela bei Rio de Janeiro. Sein jüngerer Bruder lebt noch in Brasilien, seine Mutter, die nicht Lesen und Schreiben gelernt hat, sein Stiefvater. Der leibliche Vater verließ die Familie, als Thiago zwei Jahre alt war. Von heute auf morgen. Er hat ihn nicht wirklich gekannt. Kein Geld und Solidarität: Eine Favela ist ein komplexes Gebilde aus engen Gassen und engen Häusern. Ein wuchernder Organismus, der nach eigenen Regeln funktioniert. Es gibt Drogenbanden und Verbrechen, wobei die Banden ihre Reviere haben und niemanden hineinlassen, der ihnen nicht gefällt. Man achtet auch im Gefängnis besser darauf, sie zu trennen. Es ist eine Parallelwelt aus Improvisation und Zufall, aus Durchwursteln und Gelassenheit, aus wenig Geld, keinem Geld und Solidarität. Durchschuss beim Nachbarn: Tiagos Haus war ziemlich baufällig. Es hatte drei Räume, der Strom wurde über verwegen gelegte Leitungen besorgt, fließendes Wasser gab es nicht. Aber sie kamen irgendwie zurecht. Als Brasilien vor sechs Jahren die Fußball-WM im Land hatte, tauchten in der Favela plötzlich fremde junge Männer auf. Sie führten ihre Maschinengewehre spazieren und waren auch sonst nicht eben lustig. Ein Nachbar erlitt einen Durchschuss, sie lagen häufiger flach auf dem Boden, und Karolin Broosch fragte sich: „Was mache ich hier eigentlich?“ Es waren Szenen vom Hinterhof des internationalen Glitzer- und Glamoursports. In dieser Welt ist Tiago Cosmo groß geworden. Und klassische Musik war etwas, das schwer mit ihr in Einklang zu bringen schien. Sie war das ganz Andere. Aber sie war eine Möglichkeit, das alles vielleicht hinter sich zu lassen. Konzerte, Unterricht und Wasser an der Ampel: Er übte viel. Er setzte sich vor das Haus seiner Mutter, bei jedem Wetter, und spielte. Er schaute in den Etüdenband, den Karolin Broosch ihm geschenkt hatte. Er kämpfte um Bildung und Musik, machte Abitur und konnte studieren. Er spielte Konzerte, unterrichtete Geige, verdiente Geld, verkaufte Wasser an Ampeln, sparte, und irgendwann war es genug für ein neues Haus, in dem seine Mutter leben konnte. Seine Mutter, die inzwischen wie die ganze Familie längst an Corona erkrankt gewesen ist, weil das Virus in den Favelas gnadenlos zuschlägt. Musik schafft Raum: Was Musik für ihn bedeutet? „Gute Frage“, sagt er und denkt eine Weile nach. Dann schaut er einen an und spricht von Gemeinschaft, von einer internationalen Sprache, die Mauern einreißen könne. Da sei plötzlich Raum gewesen, sagt er. Viel Platz für etwas Wunderbares neben waghalsigen Stromleitungen und fremden jungen Männern mit Maschinengewehren. Und von Bach erzählt er, von der „Strenge“ der barocken Musik, aber auch von einer Freiheit darin, die man sonst nur im Jazz finde. Er spüre bei Bach eine tiefe Spiritualität, sagt er. Religion bedeutet ihm viel. Und dass er jetzt hier in Lübeck lebt, zwischen alten Mauern, die auch der Thomaskantor gesehen hat, als er vor gut dreihundert Jahren die Marienkirche und Dieterich Buxtehude besuchte, das findet er nach wie vor unglaublich. Raus aus der Opferrolle: Klassische Musik aus dem Westen hat in Brasilien einen fabelhaften Ruf. Sie gelte als schick, sagt Karolin Broosch. Als elegant. Wie überhaupt fast alles, was aus Europa komme. Aber dann pralle diese Eleganz auf ein Gefühl des Ungenügens, auf eine Haltung, die sagt: Das ist nichts für dich, das geht dich nichts an. Sie spricht von einer „Opferrolle“, der man dort immer wieder begegne. Auch als sie aus der Favela in eine bessere Gegend zogen und Tiago Cosmo lange meinte, er gehöre dort nicht hin. Weil aber Musik ein gutes Mittel dagegen ist, haben sie 2013 ein eigenes Projekt gegründet, die Camerata Laranjeras. Sie gaben ehrenamtlich Musikunterricht, es kamen immer mehr Jugendliche, sie spielten Konzerte, gingen auf Tournee nach Norwegen, Schweden, Deutschland. Sie bekamen Unterstützung, auch aus Lübeck. Die Geigenbaumeisterin Andrea Masurat etwa reparierte Instrumente und kümmerte sich um neue. Der Cellist Daniel Sorour war schon zweimal drüben und gab Unterricht. Irgendwann hatten sie so viele Instrumente, die nach Brasilien gebracht werden mussten, dass Thomas Fischermann, der Brasilien-Korrespondent der „Zeit“, über Twitter einen Aufruf startete und dann plötzlich viele Sportjournalisten aus Deutschland mit einer Geige im Gepäck zur WM nach Rio flogen. Aus der Favela ans Berklee College: Sie haben einen gehörigen Erfolg mit dem Projekt. Fast alle Schüler seien später zum Studieren an eine Hochschule gegangen, sagt Karolin Broosch. Die Cellistin Kelly habe es gar ans Berklee College nach Boston geschafft. Und während sie in Deutschland sind, läuft das Projekt weiter. Zwei ehemalige Schüler und eine Mutter kümmern sich darum. In Lübeck geben sie jetzt Unterricht, spielen Konzerte. Karolin Broosch studiert noch Kunstanaloges Coaching, Tiago Cosmo lernt im Integrationskurs Deutsch. Sie würden gern etwas Multikulturelles, Integratives machen. Und ansonsten, sagen sie, sind sie offen für alles. Lesen Sie auch Von Rio zurück nach Schwarzenbek Ein Konzert, das die Herzen berührte Kultur und Kuchen im Rosengarten von Gut Basthorst Von Peter Intelmann