Musiker aus aller Welt ziehen sich für sie aus: Künstlerin bemalt Sänger mit deren Lieblingssongs

Manchmal beginnen wunderbare Dinge ganz beiläufig. Bei Jeannine Platz begann alles vor vielen Jahren mit einem Anruf. „Jeannine, du hast so eine schöne Handschrift. Kannst du etwas für mich schreiben?“ Die Anruferin, eine Freundin aus Jugendzeiten, arbeitet in einer namhaften Werbeagentur und sucht jemanden, der Einladungskarten für das Event „couple of the year“ beschriftet. Drei Tage später hat Jeannine Platz ihren ersten Auftrag: In ihrer schönsten Schrift, mit Feder und Tinte, bringt sie hunderte Namen und Adressen auf feinstes Papier. Sie schreibt die ganze Nacht und gibt die Arbeit am nächsten Tag ab. Etwas unsicher ist sie schon: Ist es schön genug? Es ist schön genug, mehr noch: Der Kunde ist begeistert. Bald folgen weitere Aufträge. Jeannine Platz schreibt für Firmen in aller Welt: In den nächsten Jahren schreibt sie alles, was erstklassig aussehen soll: Grußkarten für Prominente, Einladungen für Vernissagen, Tischkarten für exklusive Events. Als Karl Lagerfeld 2012 im Grand Palais in Paris seine Fotoausstellung „The little black jacket“ eröffnet, bittet er Jeannine, 5000 Einladungen von Hand zu schreiben. Einmal wird sie von einem Auftraggeber nach Monaco geflogen, um vor Ort bei einem privaten Fest Tischkarten für Nachzügler zu schreiben, die sich nicht angemeldet haben. Kalligraphie (griechisch καλλιγραφία kalligraphía, von κάλλος kállos, deutsch ‚Schönheit’, und -grafie) ist eine alte asiatische Volkskunst. In China soll sie bereits in der Yangshao Kultur vor etwa 6000 Jahren existiert haben. Im Laufe der Jahrhunderte durchdrang sie die Geschichte der Literatur, Poesie, Malerei und Politik und entwickelte sich zu einer der höchsten Kunstformen in der gebildeten Gesellschaftsschicht. Eine ausdrucksstarke Schrift galt und gilt noch heute als Zeichen einer in sich reifen Persönlichkeit. In Japan wird die Schreibkunst „Shodo“ (übersetzt: „Weg des Schreibens“) mit einem Kalligraphiepinsel und Tusche ausgeführt. Jeder Punkt, jedes Ende einer Linie, jeder feine Schwung, sogar die Leerräume auf dem Reispapier haben einen Sinn. Immer mehr große Firmen lassen es sich etwas kosten, dass Jeannine Platz ihnen ihre zauberhafte Handschrift leiht. Aus der Schönschreiberin wird eine international gefragte Kalligraphin, die schließlich für Chanel, Montblanc und Hermès arbeitet. Moderatorin, Sprecherin, Schauspielerin, Malerin: Jeannine Platz hat viele Talente. Nach dem Abitur hat sie in der Werbung gearbeitet, ging dann zum Fernsehen, war Cutterin, Produktionsleiterin. Dann folgten eine Schauspiel- und eine Synchron- und Hörbuchsprecherausbildung. Sie spielte am Ohnsorg Theater, arbeitete als Moderatorin und las zahlreiche Hörbucher ein. Daneben lernte sie japanische Kalligraphie bei Kazuaki Tanahashi. Einzelausstellungen in Hamburg, Berlin, Hannover: Jeannine Platz wohnt mit ihren Töchtern in Hamburg Ottensen. Ihr Atelier liegt im Gewerbehof Hagen, auf dem Gelände einer ehemaligen Fischräucherei. Hier entstehen großformatige Bilder, Collagen, Bühnenbilder, Theaterplakate. Sie hatte in den vergangenen Jahren zahlreiche Einzelausstellungen in Hamburg, Berlin, Hannover. Jeannine Platz „Es sind schöne, intime Momente“: Etwa zu der Zeit, als Jeannine Platz ihren ersten Kalligraphie-Auftrag bekam, hörte sie immer wieder das Stück „This is not a love song“ von PIL. Es war das Lieblingslied ihres Freundes. Irgendwann nahm sie einen Kajalstift und schrieb sich den Songtext auf den Körper. Daran erinnerte sie sich im vergangenen Jahr – und damit war die Idee zu „The voice on my skin“ geboren. Gemeinsam mit dem Hamburger Fotografen Ronny Zeisberg, der unter dem Künstlernamen wieglas arbeitet und aus Menschen in seinem Atelier Kunstwerke formt. bat sie Musiker aus aller Welt in ihr Atelier. Jeder suchte sich einen Songtext aus dem eigenen Repertoire aus, den sie dann auf die nackte Haut schrieb. „Das waren sehr intime, schöne Momente. Natürlich durfte jeder Künstler sagen, wo ich schreiben darf. Manchmal erlebte ich Überraschungen. Eine Künstlerin kam und sagte, bitte schreib nur ins Gesicht, mehr möchte ich nicht. Zum Schluss lag sie dann nackt auf dem Boden und ich durfte den ganzen Körper beschriften.“ Wieglas hielt die sichtbar gewordene Musik fotografisch fest. Künstler wie Heinrich von Handzahm („Die Zeiten“) und Ulrich Tukur („Was bleibt zurück“) ließen ihren Lieblingssong verewigen. Michèl von Wussow war etwas nervös: Auch den jungen Musiker Michèl von Wussow, der aus Ostholstein kommt und in Hannover Popmusik studiert, bat Jeannine Platz in ihr Atelier. „Ich hatte den Song ,Matilda’ gerade fertig geschrieben und aufgenommen, als ich die Einladung bekam. Ich war ein bisschen nervös, als ich sie in ihrer beeindruckenden Werkstatt in Ottensen besuchte, aber es war eine tolle, kreative Atmosphäre. Und am Ende des Nachmittags stand ,Matilda’ auf meiner Brust.“ Er fügt hinzu: „Es hat mich fasziniert, dass bei dieser Aktion so viele Kunstformen zusammen kamen: Musik, Gesang, Malen, Schreiben, Fotografieren.“ Ausstellung und Konzert geplant: Das Projekt „The voice on my skin“ mündet in eine Ausstellung irgendwann nach Corona. Auch einen großformatigen Bildband wird es geben. Und vielleicht ein Konzert mit Künstlern, die an der Aktion teilgenommen haben. Von Jutta Junge