Nordische Filmtage 2020: Neue Dokus über sterbende Kulturen

Geduldig wiederholt der Sprachlehrer den kehligen Laut. Die Schülerin lacht verlegen, spricht ihm nach. Sie ist Mandan-Indianerin und lernt die Sprache ihrer Vorfahren. Ihr Lehrer ist der einzige lebende Mensch, der Mandan beherrscht. Er heißt Indrek Park, hat rote Haare, helle Haut und kommt aus Estland. Liivo Niglas hat die Situation in dem Dokumentarfilm „ Eine Sprache retten “ in unspektakulären, sachlichen Bildern festgehalten. Im Dokumentarfilmprogramm der „Nordischen Filmtage“ ist er noch bis Sonntag Online zu sehen. Rettungssanitäter für eine Sprache: Es ist skurril, dass die Rettung der vom Aussterben bedrohten Sprache von einem Linguisten aus Estland abhängt. Von 2000 teils hoch komplexen Indianersprachen haben in Nordamerika nur hundert überlebt. Jeden Monat, erzählt Park in einem Radiointerview, stirbt eine davon aus. Dass seine Arbeit aus der Ölförderung finanziert wird, die die Indianer-Reservation gleichzeitig bedroht und am Leben erhält, macht es nicht einfacher. Protokoll einer sterbenden Lebensform: Auch Audun Amundsen protokolliert in seiner Dokumentation „ Newtopia “ eine sterbende Kultur. Der Namensvetter des berühmten Polarforschers freundet sich 2008 im indonesischen Regenwald mit einem Schamanen an. Zu einem zweiten Besuch kommt er mit Kamera, um das ursprüngliche Leben der Menschen im Wald zu dokumentieren. Doch dabei wird er zum unfreiwilligen Zeugen eines radikalen Kulturwandels. Die Waldbewohner beginnen, Geld zu nutzen, und fahren immer öfter zum Arbeiten in die Stadt, bis sie schließlich ihre Siedlung im Wald verlassen. Ist dieser Wandel gut oder schlecht? „Das kommt auf die Perspektive an“, kommentiert Amundsen. Acht Jahre begleitet er die Familie und macht daraus einen sehr persönlichen Film. Am Ende stellt der Schamane, die Frage, welche Lebensform „entwickelter“ ist: „Als wir noch im Wald gelebt haben, haben wir uns immer entwickelt“. Kein Privateigentum, keine Rentiere: Ebenfalls mit einer indigenen Kultur beschäftigt sich die Doku „ Habitat “, die in der Sparte „Filmforum“ des Festivals zu sehen ist. Sie erzählt die Geschichte der Sami, eine Ethnie, die über vier Länder verteilt im Norden Skandinaviens und Russlands lebt. In kurzen Einstellungen erzählen Sami, was sie mit ihrer Kultur verbindet. Ein Künstler besingt die melancholische Schönheit der Tundra. Ein alter Mann berichtet von den großen Umsiedlungen der Sowjetrussen, die den Familien fast alle Tiere wegnahmen und sie zwangen, fern der Heimat in Kolchosen zu arbeiten. Und eine junge Frau erzählt mit Leuchten in den Augen, wie sie zu den Rentierhirten ging, nachdem sie erfahren hat, dass sie eine Sami ist. Die kulturelle Matrix: Orte, Sprache, Lebensform: Daraus entsteht ein Kaleidoskop der Perspektiven, das zeigt, wie eine Kultur sich ohne Wurzeln verlieren kann. Die drei Dokumentationen beleuchten wichtige Bausteine kultureller Identität: Sie braucht Orte, um sich zu entfalten, wird durch Sprache weitergegeben und besteht aus einer Lebensform wie der Weidewirtschaft. So sagt einer der Sami: „Wir sind Rentier-Menschen.“ Lesen Sie auch: Auftakt der Nordischen Filmtage Lübeck – Interview mit Ulrich Thomsen, Hauptdarsteller des Eröffnungsfilms "Unser Mann in Amerika" Nordische Filmtage Lübeck: Das sind die Spielfilm-Favoriten der LN-Redakteure Nordische Filmtage: Hier spielt Lübeck eine Hauptrolle Nordische Filmtage Lübeck 2020: Das sind die Perlen des nordischen Dokumentarfilms LN-Gastro-Test: Die beste Pizza im Norden kommt aus Lübeck Kommentar zum Belttunnel-Urteil: Kein Grund zum Jubeln Private Treffen: Diese Corona-Regeln gelten im November in Schleswig-Holstein Von Friederike Grabitz