Petripastor Bernd Schwarze über Dankbarkeit in Zeiten von Corona

„Man muss aber auch dankbar sein“, schrieb mir eine Bekannte. Denn inmitten der Corona-Krise scheine ja die Sonne, und die Stille dieses Frühlings tue der Seele wohl. Den Sinn für das Schöne, der aus ihren Worten sprach, konnte ich nachempfinden. Trotz mancher Sorgen erlebe auch ich Freude und Genuss. Aber an Dankbarkeit mochte ich nicht denken und an ein Müssen schon gar nicht. Bernd Schwarze ist seit mehr als zwanzig Jahren als Pastor in Lübeck tätig, zunächst auch viele Jahre in St. Marien, inzwischen allein für die künstlerische Leitung der Kultur- und Universitätskirche St. Petri zuständig. Seiner Erfahrung nach sind es vor allem Zweifler und Skeptiker, die sich in traditionellen Gottesdiensten nicht mehr zu Hause fühlen, die St. Petri als Ort des Nachdenkens über Gott und Welt aufsuchen. Die Petrivisionen, die Andachtsreihe Solo Verbo sowie Themenabende zu philosophischen, psychologischen und theologischen Fragestellungen begrüßen Gäste aller Konfessionen und Weltanschauungen zum offenen religionsphilosophischen Austausch. Möglicherweise ist mein Gemüt ein wenig kirchlich verkorkst. Der Dankbarkeits-Kult, den die Religion zuweilen arg strapaziert, hat mir schon oft Unbehagen bereitet. Danken wofür? Dafür, dass es mir oder uns gutgeht, während andere darben? Als ich in meinem pastoralen Dienst noch weniger selbstbewusst war, ließ ich Brautpaare gewähren, wenn sie sich zur Trauung unbedingt den Kirchenschlager „Danke“ wünschten. Nicht nur der Organist hat mir leidgetan. Stets hoffte ich, dass kein Sozialhilfe-Empfänger unter den Gästen war, wenn wir die Zeile „Danke für meine Arbeitsstelle“ anstimmten. Das verbreitete theologische Missverständnis scheint mir in der Vorstellung zu bestehen, dass „da oben“ jemand austeilt, und wenn es jemanden günstig trifft, soll oder muss er dankbar sein. In der Coronavirus-Krise müssen die Geschäfte in der Region Lübeck sowie den angrenzenden Kreisen vorübergehend schließen. Viele Betriebe stellen daher kurzfristig auf Online-Bestellungen um oder bieten Lieferdienste an, andere wiederum machen spezielle Gutscheinangebote. Die LN unterstützen Händler in Not und bieten unter ln-online.de/supportyourlocal eine Liste mit Angeboten und Ideen der lokalen Geschäfte, Restaurants, Cafés und Einzelhändler. +++ Für Unternehmer: Hier können Sie Ihren Betrieb direkt eintragen. +++ Für Kunden: Hier können Sie auf einen Blick sehen, welche Firmen dabei sind. In diesen Wochen wäre es zynisch, Dankbarkeit zu fordern. Soll derjenige, der sich noch nicht infiziert hat, dafür bedanken, dass er gesund ist? Soll diejenige, die nach einem leichten Krankheitsverlauf wieder genesen ist, den Himmel dafür preisen? Und was ist dann mit jenen, die auf den Intensivstationen bangen, und den Tausenden, die verstorben sind? Es ist, als ob sich Dank nur auf der Basis einer ungerechten Verteilung denken ließe. Ein Journalist hat zum Anfang der Krise behauptet, dass das Virus ein großer Gleichmacher sei, denn es sei dem Erreger egal, welcher Rasse oder welcher Klasse seine Opfer angehörten. Wenn man davon absieht, dass ein Virus nicht mit Absicht handelt, ist diese These schlichtweg falsch. Inzwischen wissen wir, dass es in den Vereinigten Staaten überproportional viele arme schwarze Familien trifft. Soll man Gott dafür danken, dass man selbst zu den Privilegierten gehört? Denken und Danken: Dankbarkeit religionsphilosophisch zu denken, ist nicht einfach. Aber möglich. Denken und Danken entstammen sprachlich einer gemeinsamen Wurzel, die auf „Wiegen“, auch im Sinne von Bewerten, verweist. Im Denken wertet und wägt der Mensch aktiv, entwirft sein Leben selbst in die Welt hinein. „Ich denke, also bin ich“, schrieb Descartes. Im Danken hingegen erkennt der Mensch die Grenzen seiner Macht, begreift, dass er sich nicht selbst in die Welt geworfen hat. So ahnt er seine Teilhabe am Anderen, am großen Ganzen. Dankbar sein heißt vernünftig sein: Solche Teilhabe bedeutet: Beziehung und ist somit auch die Ermöglichung von Liebe. Liebe zu anderen Menschen, aber auch Liebe zum schicksalhaft begrenzten, auch von Angst und Schmerzen durchwirkten Leben. Dankbar sein heißt somit nicht, still und demütig zu sein. In diesen Wochen kann es schlicht bedeuten, vernünftig zu agieren und rücksichtsvoll das Leben anderer zu achten. Man muss nicht dankbar sein, aber manchmal ereignet sich die Dankbarkeit ganz von allein. Neulich beim Spazierengehen am Bahndamm. Alles voller Schmutz und Müll. Und mittendrin eine einzige Tulpe, die so sonnengelb strahlte, als hätte ein Gott sie sich ausgedacht. Ich denke, also bin ich. Ich danke, also liebe ich. Dankbar für Denkbares am Rande der Denkbarkeit. Das LN Corona-Update als Newsletter Alle News zum Coronavirus in Lübeck dienstags bis samstags gegen 7 Uhr im E-Mail-Postfach Lesen Sie auch: Pastor Schwarze über den Ostergottesdienst Pastor Schwarze über den Glauben in Zeiten von Corona Petrivisionen Von Pastor Bernd Schwarze

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