Die erfolgreichste Inszenierung der Intendanten-Ära Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus im Hamburg ist die Romanadaption „Unterwerfung“. Edgar Selges Solo als anpassungsfähiger Professor François aus dem Kosmos des französischen Schriftstellers Michel Houllebecq ist seit der Uraufführung im Februar 2016 ständig ausverkauft. Also legt das Haus am Hauptbahnhof nach: mit „Serotonin“, Houllebecqs aktuellem, wieder sehr kontrovers diskutiertem Roman über einen abgehalfterten Mann mittleren Alters, der sich mithilfe von Antidepressiva am Leben erhält.
Vier Schauspieler teilen sich die Hauptrolle
Edgar Selge konnte die Rolle des Florent-Claude nicht übernehmen, er wird zu sehr mit François aus „Unterwerfung“ identifiziert, vor allem, seit er diese Figur auch in einem ZDF-Film verkörpert hat. Regisseur Falk Richter behilft sich mit einem nicht mehr ganz frischen inszenatorischen Kunstgriff: Er lässt die Rolle von vier Schauspielern vortragen. Zum Teil sprechen sie im Chor, zum Teil fallen sie aus der Florent-Claude-Rolle in die seiner Partner.
Der Mann ist abhängig von Captorix, einem Medikament, das den Serotoninspiegel im Blut erhöht, von Nikotin und Alkohol. Und Erotik. So ist er nun mal, der Homo houellebecquus: übersexualisiert, pornoaffin, depressiv, einsam und auch lebensklug. Das Drama: Er ist seiner Potenz verlustig gegangen und mithin seiner Existenzberechtigung.
Abgesang auf den präpotenten europäischen Heterosexuellen
Jan-Peter Kampwirth, Carlo Ljubek, Tilman Strauß und Samuel Weiß verkörpern diese Figur mit unterschiedlicher Intensität, mal erscheint sie tragisch, mal albern, mal würdelos. In jedem Fall muss sie für einen Abgesang auf den präpotenten europäischen Heterosexuellen herhalten. Im Roman versucht dieser Flaurent-Claude aus seinen Beziehungen, dem Job als Agraringenieur und als Zeitgenosse spurlos zu verschwinden. Auf der Bühne wird er in den zweieinhalb Stunden der Aufführung immer sichtbarer: als Karikatur eines von allen guten Geistern Verlassenen, der mit seinem Diesel-SUV dem Zeitgeist trotzt und stolz ist auf sein „fehlendes staatsbürgerliches Pflichtgefühl“.
Femininer Machismo mit Rap und Schmalz
Man kennt diese Haltung von den französischen Gelbwesten und auch von Reichsbürgern hierzulande. In „Serotonin“ wird sie als individuelle Attitüde verstanden, da ändert auch die Vervierfachung des Florent-Claude nichts daran. Wenn sich die Figur zwischen den um ihre Existenz kämpfenden Bauern in der Normandie wiederfindet, wo ihr letzter verbliebener Freund Aymeric einen selbstmörderischen Krieg anführt, bleibt sie Zaungast. Hat zuvor die Farbe Schweinchenrosa dominiert, leuchtet jetzt dramatisches Feuerrot auf großen Bildschirmen. Aber das ist eben nur eine Projektion, wie überhaupt die gesamte Kulisse im ersten Teil des Stücks. Regisseur Richter macht über große Strecken nicht mehr und nicht weniger, als den Roman mit bunten Bildern zu illustrieren. Bis zwei Frauen sich aus gegenüberliegenden Theaterbalkonen bemerkbar machen, Sandra Gerling und Josefine Israel, die allerdings auch keine weibliche Perspektive einbringen, sondern den femininen Machismo mit Rap und Schmalz ausspielen.
Man erfährt einiges über „die B-Seite des Daseins“
Florent-Claude erweist sich im Roman wie auf der Bühne als glückloser Glückssucher. Nihilist wie sein Schöpfer ist er nicht. Er ist eigentlich ein Romantiker, eine aussterbende Art, deren Zeit längst vorbei ist. Die Darsteller enden in umgekehrter evolutionärer Reihenfolge als mit Fell behängten Primaten. Das wäre eine schöne Pointe, doch leider ist damit noch nicht Schluss. Sie haben ein Ende als vor dem Fernsehgerät verfettende, zügig auf den Tod zusteuernde Monster. Das klingt nicht gerade unterhaltsam, doch die Ensemble-Leistung ist durchaus packend – man erfährt einiges über „die B-Seite des Daseins“, wie Houellebecq das einmal genannt hat.
„Serotonin“ von Michel Houellebecqin einer Fassung von Falk Richter; weitere Vorstellungen am Schauspielhaus Hamburg: Di., 10., September, 19.30 Uhr, Sa., 21. September, 20 Uhr, So., 22. September, 16 Uhr; Kartentelefon: 040 248713
Von Michael Berger