Streifzug durch Lübecks Werft-Geschichte: Gollan-Mitarbeiter blickt zurück

Riesige Augen hat er immer gemacht, wenn er als kleiner Junge an der Hand seines Vaters Siegfried hier durch die Hallen gegangen ist. Noch größer war die Aufregung, wenn er bei einem Stapellauf dabei sein durfte. „Das war damals immer etwas ganz Besonderes“, sagt Norbert Kühn. „Damals“, das war die Zeit, als die Firma Orenstein & Koppel (O&K) in der Einsiedelstraße 6 eines ihrer Werke am Lübecker Hafen hatte und neben dem Schiffbau vor allem auf Tagebau-Geräte und Schiffsbagger spezialisiert war. Auch der Großmaschinenbau und die Herstellung von Windkraftanlagen gehörten zum Fertigungsprogramm. 2000 Mitarbeiter in der alten Werft: Der Maschinenpark mit den Stahlriesen war nicht nur beeindruckend, sondern auch ein großer Arbeitgeber. Um die 2000 Menschen haben damals auf dem Gelände gearbeitet. Die Lübecker Niederlassung von O&K war eine Art Aushängeschild der Firma, die ihren Hauptsitz bei Berlin hatte. Lesen Sie auch Vor 50 Jahren: Der Bund als Großkunde der LMG-Werft Rückblick auf die Jahre von Orenstein & Koppel in Lübeck Die Geschichte des Lübecker Hafens in Bildern Goldene Jahre seien die 1970er gewesen, erzählt der 57-jährige Kühn, der wie sein Vater Maschinenschlosser gelernt und später über Weiterbildungen seinen Meister gemacht hat. Schweißen, flexen, brennen – Kühns Arbeitsalltag bestand aus traditionellen Metallbauarbeiten, und er hat es geliebt, hier tagein tagaus in den Hallen zu arbeiten. „Die Halle 4 war die Lehrwerkstatt“, erzählt er. „Hier habe ich den größten Teil meiner Ausbildung verbracht.“ Die heutige Halle 9 sei damals die Vergütungshalle gewesen, in der die Stahlträger gehärtet wurden. „Jede Wand hier mit ihren Ecken und Kanten erzählt ihre ganz eigenen Geschichten, von denen ich viele miterlebt habe.“ Das Gelände rund um die heutige Kulturwerft ist eines der ältesten Industriegelände Schleswig-Holsteins. Die Werftindustrie war einmal einer der größten Arbeitgeber in Lübeck. Die Roddenkoppel ist traditionell ein Hafen- und Industriegebiet am westlichen Ufer der Trave gegenüber der nördlichen Wallhalbinsel und dem Burgtorhafen. Von Mitte des 19. Jahrhunderts bis Ende der 1980er-Jahre war es geprägt von Maschinen- und Schiffbauindustrie. Die Lübecker Maschinenbau-Gesellschaft (LMG)dominierte das Gelände. Die ältesten Gebäudeteile stammen aus dem Jahr 1870. Bis 2010 wurden hier unter anderem Spezialschiffe, Nass- und Trockenbagger gebaut, zunächst von der Lübecker Maschinenbau Gesellschaft (LMG), später von Orenstein & Koppel und Krupp Fördertechnik. Orenstein & Koppelwar spezialisiert auf Schiffsbagger, auch der Großmaschinenbau und die Fertigung von Windkraftanlagen gehörten zum Fertigungsprogramm. O&K fusionierte 1950 mit der Lübecker Maschinenbau Gesellschaft (LMG). Durch den Bebauungsplan, den die Bürgerschaft 2015 beschloss, ist die Roddenkoppel nicht mehr Industrie-, sondern Gewerbegebiet. Heute nutzen das Gelände neben der verkleinerten LMG (Maschinenbau) die Unternehmen Lagerhaus Lübeck, Gollan Recycling und Nordic Rail Service – unter Denkmalschutz stehen die Tudorhalle, eine ehemalige Schiffbauhalle auf dem LMG-Gelände, und der Spitzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gollan-Gelände. Auch Kühn junior war bei O&K eingestellt, gute zehn Jahre waren es, bis die Firma 1990 in Lübeck ihre Tore geschlossen hat, Norbert Kühns Vater in die Rente ging und der Sohn in Lübeck als Schlosser weiter arbeitete und später einige Jahre auch selbstständig war. Zurück in den ehrwürdigen Hallen: Nun ist der Sohn zurück – zurück in seinem alten Revier und seit drei Jahren mit einem sechsköpfigen Team damit beschäftigt, die alten Hallen auf neue Zeiten einzustimmen – und das im wahrsten Sinne des Wortes: Denn seit Unternehmer Thilo Gollan das Areal 2011 erworben hat, stehen die Zeichen auf Kultur: Konzerte, Ausstellungen, Messen – die Kulturwerft Gollan ist seit einigen Jahren eine der angesagtesten Locations. Mit Sounds und Beats, Installationen und Lichtanlagen und einer besonderen Industrie-Atmosphäre, ist das eingeschlafene Areal zum Kultur-Spot wiedererweckt worden. Und dafür müssen die historischen Hallen stetig fein gemacht werden, ohne aber an altem Charme einzubüßen: Alte Industriegeschichte frisch gemacht für die Kultur. So lässt sich Kühns Arbeit für die Gollan-Gruppe beschreiben. „Von Brand- und Feuerschutzauflagen über Notfallkonzepte, Infrastruktur, Heizelementen und Kommunikationstechnik gibt es in den Hallen allerhand zu tun“, erzählt Kühn. „Halle 4, 5, 9 und 27 sind jetzt fertig und in Betrieb, aber für die neuen Pläne müssen auch die anderen Hallen fertig gemacht werden.“ Gegenüber der nördlichen Wallhalbinsel mit Blick auf die Lübecker Altstadt liegt das rund fünf Hektar große Gelände mit insgesamt 30 Hallen. Das ehemalige Werftgelände in der Einsiedelstraße 6 kann auf eine 135-jährige Geschichte zurückblicken. Insgesamt 53 000 Quadratmeter, davon 17 000 Quadratmeter Hallenfläche und 160 Meter Kai-Linie an der Trave hat Unternehmer Thilo Gollan 2011 aus einer Insolvenz gekauft. Die Feier zum 60. Firmenjubiläum von Gollan im September 2015 mit mehr als 1000 Gästen war eine Generalprobe für das Projekt Kulturwerft. Dazu mussten 2500 Tonnen Schutt und Altlasten aus den Hallen geschafft, Gestrüpp und Farne entfernt, Fenster und Dächer erneuert werden. 2017 gab es mehr als 1o0 Veranstaltungen auf dem Areal der Roddenkoppel, darunter auch die Wahlkampfarena mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Herausforderer Martin Schulz (SPD). Die große Halle bietet Platz für rund 2500 Gäste. Neue Manufakturen und neues Foyer in Arbeit: Und nun folgen eine neue Oldtimer-Werkstatt und eine Kaffee-Rösterei. Die Corona-Pause habe dem Vorhaben noch mal einen kräftigen Schub gegeben, sagt Kühn mit Blick auf die vielen weiteren Hallen, die noch von Grund auf saniert werden müssen. Auch das Foyer soll demnächst in Angriff genommen werden. „Da gehen wir ran, sobald Zeit und Wetter es erlauben.“ Das Gute sei ja, dass man intern im Unternehmen von Gollan alle möglichen Handwerker vor Ort habe, das erleichtere natürlich Vieles. Die Kultur ist also für einen Moment still gelegt, wird aber hinter den Kulissen nachhaltig voran gebracht. Und Kühn? Der denkt noch lange nicht ans Aufhören und feilt täglich mit Chef Thilo Gollan an neuen Umsetzungen. „Ich möchte noch viele Jahre weiter machen.“ Es sei emotional für ihn sehr bewegend und „irgendwie auch komisch“, wieder hier zu sein und täglich durch die Hallen zu wandeln, die er als Kind und später auch als Lehrling durchlaufen hat, während er sie nun für ihr neues Lebenskapitel neu einkleidet. Als sein alter Vater, der vor eineinhalb Jahren verstorben ist, davon hörte, dass der Junior wieder in der alten Werft arbeitet, sei er noch mal „richtig aufgeblüht vor Freude“, erzählt sein Sohn. „Das ist mehr als Arbeit für mich hier. Das ist mein Leben.“ Sein Sohn, der Informatiker ist, werde wohl nicht mehr in seine Fußstapfen treten, erzählt Kühn mit einem Augenzwinkern. „Aber ich würde mich freuen, wenn ich eines Tages mit meinen Enkelkindern an der Hand durch die Hallen gehe und ihnen zeige, was der Opa hier für ein Andenken geschaffen hat.“ Von Schabnam Tafazoli