Techau: Kreativkopf Simon Urban veröffentlicht sein drittes Buch "Wie alles begann und wer dabei umkam"

Gar nicht so leicht im Falle von Simon Urban aus seiner Vita zu erzählen, wenn man kaum weiß, wo man anfangen soll. Bei der Edeka-Kampagne #heimkommen vielleicht, die Urban 2015 geschrieben hat und die mit mehr als 66 Millionen Klicks zu den erfolgreichsten viralen deutschen Werbekampagnen überhaupt gehört? Bei den Preisen, die er als Werbetexter abgeräumt hat? Bei seiner Tätigkeit als freier Mitarbeiter bei den Lübecker Nachrichten? Bei der Strandbäckerei Urban, die seine Großeltern in den 70er Jahren in Niendorf und Scharbeutz betrieben hat? Oder bei den Büchern, die er geschrieben hat? „Verrücktes, großartiges Szenario“: 2011 erschien Urbans Debütroman „Plan D“, in dem die DDR nie untergegangen ist. 2014 folgte sein zweiter Roman „Gondwana“ über eine religiöse Diktatur. Zwei erfolgreiche Bücher, für die Urban vor allem für „die Schubkraft literarischer Fantasie“ („Die Zeit“) oder ein „ verrücktes, großartiges Szenario“ (NDR Kultur) gefeiert wurde. Satirisch, intelligent, grenzübergreifend, urban – und gut. Der 46-jährige Autor mag auch vielen Lübeckern ein Begriff sein, die in diesem Winter im weihnachtlichen Lübeck mit auf Rosemaries Reise gegangen sind: Urban war es, der die Corona-Abenteuer von der kleinen Maus für diesen Bilderbuch-Spaziergang durch die Stadt geschrieben hatte. Lesen Sie auch Lübeck: Mit der Maus "Rosemarie" in der Weihnachts-City unterwegs Rückzug nach Techau: Der Blick in seine Vergangenheit zeigt schon einiges, was der Hamburger, der mit Frau und Sohn in der Schanze lebt, bisher auf die Beine gestellt hat. Der Blick in die Zukunft geht vor allem über ein riesiges Grundstück in Techau mit Garten, Flussbett und vielen Bäumen, der dem 46-jährigen vor allem eines abverlangt: „Viel Arbeit“, sagt der Autor und lädt auf einen Kaffee in sein Baustellen-Wohnzimmer. „Das Haus ist ein Erbstück“, erzählt der Sohn einer Richterfamilie. Er kann sich gut vorstellen, der Großstadt eines Tages den Rücken zu kehren und hier ins ostholsteinische Landleben abzutauchen, denn arbeiten kann er als freier Werbetexter von überall, „aber das ist noch ein weiter Weg, erst einmal muss hier alles fertig werden“. Simon Urban wurde 1975 in Hagen geboren. Auf ein Germanistikstudium in Münster folgte eine Ausbildung an der Texterschmiede Hamburg sowie ein Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Für seine Werke wurde er 2003 mit dem Erker-Preis, 2005 dem Literaturförderpreis Ruhrgebiet und 2006 mit dem Limburg-Preis der Stadt Bad Dürkheim ausgezeichnet. 2009 gewann er bei den Clio-Awards, die zu den wichtigsten Kreativpreisen der Welt zählen, den Grand Prix und Gold für die erste literarische Live-Werbepause. Urban arbeitete bei den Werbeagenturen Scholz & Friends, Grabarz & Partner sowie Jung von Matt. Seit 2013 ist er als freier Werbetexter tätig. Er lebt und schreibt in Hamburg sowie in Techau im Kreis Ostholstein. Neues Buch über einen miesen Juristen: Fertig dagegen ist Urbans dritter Roman. Nicht weniger lustig, nicht weniger kreativ, nicht weniger bissig und brillant als die beiden Vorgänger. „Wie alles begann und wer dabei umkam“ ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und erzählt auf gut 600 Seiten den Wahnsinnswerdegang eines Mannes, der wegen seines Hasses auf seine Großmutter auf die Pfade der Justiz und Selbstjustiz gerät, bis er vom streberhaften Rechtsgelehrten zum Mörder wird, vom ewigen Außenseiter zum dunklen Rächer, vom ekligen Besserwisser zum noch ekligeren Prozessmacher. So ungefähr die Kurzversion, die den vielen Facetten dieser Geschichte kaum gerecht wird. Die Sicherungen durchgebrannt: Ganz nah und recht absurd nimmt Urban die Leser in diesem Schelmenroman mit in das Leben eines Mannes, dem die Sicherungen durchbrennen – und den man bei seinem juristischen Hinterfragen und der Biegbarkeit von Recht ab den 70er Jahren begleiten darf: von einem piefigen Vorort von Stuttgart in die 80er Jahre, inklusive pickelig-verklemmter Listigkeiten in der Jugend, rein ins Studium nach Freiburg und weiter über See nach Papua-Neuguinea, Singapur und Bangkok, um sich auf einer weltweiten Recherchereise am Unrecht und Recht der Welt zu schulen. Abseitig, analytisch, absurd. Der Schelmenroman (nach spanischen Vorbildern) bildet eine Sonderform des Abenteuerromans, in dessen Mittelpunkt der Schelm („Picaro“) steht. Der Held stammt aus einer niedrigen sozialen Schicht und schlägt sich mit List und Betrug durchs Leben. Im Schelmenroman wird die zeitgenössische große Gesellschaft kritisch betrachtet, und die verschiedenen Gesellschaftsschichten, mit denen der Held in Berührung kommt, werden kritisch beleuchtet. Erst ist es die Oma, die „Ungerechtigkeitsurkatastrophe“, die die Familie tyrannisiert und der die Hauptfigur zumindest in Gedanken regelmäßig den Prozess macht – dann sind es die Juristen, die nicht merken, wie sehr man sie rein juristisch aufs Kreuz legen kann. Die Geilheit auf Recht und das anmaßende Abtauchen in unzählige Paragrafen auf der Suche nach echter, eigener Gerechtigkeit scheint die größte Befriedigung der Hauptfigur. Und nein, das Buch, das man tatsächlich kaum aufhören kann zu lesen, ist kein Buch nur für Juristen, sondern eine bitterböse, lustige, gesellschaftskritische Lektüre, die jedem vor Augen hält, wie relativ Recht und Wahrheit sein können. Wieder ausgezeichnet: Und einen Preis hat Urban auch schon wieder abgeräumt: Noch vor der Veröffentlichung des neuen Buches hatte er das erste Kapitel für den Hamburger Literaturpreis 2020 eingereicht, der unveröffentlichte Texte auszeichnet – und gewonnen. „Tatsächlich ist das so“, sagt Urban fast ein wenig bescheiden. „Die Kulturbehörde der Stadt Hamburg hat ihre elf Preisträger der Hamburger Literaturpreise bekanntgegeben, und Simon Urban erhält den Hamburger Literaturpreis 2020 in der Kategorie ,Roman’ – sehr herzlichen Glückwunsch!“ steht auf der Seite des KiWi-Verlags. Urban scheint Programm. Sei es in der Werbung, für die der Kreativkopf immer noch regelmäßig arbeitet, oder in der Literatur, mit der er sich als Autor inzwischen am liebsten beschäftigt. Den besten Lauf beim Schreiben habe er meist „vormittags mit viel Kaffee“, erzählt Urban, während er durch sein neues Techauer Zuhause führt. Es ruft noch an vielen Ecken nach Sanierung und Generalüberholung, aber mit ein wenig Fantasie lässt sich schon erahnen, welcher Schatz hier gehoben wird. Aber an Fantasie mangelt es Urban ja nicht. Von Schabnam Tafazoli