Vor 50 Jahren starb Erika Mann

Eine Würdigung des Lebens von Erika Mann muss mit Sätzen ihres Vaters Thomas Mann beginnen. Der schrieb nach der Geburt des ersten Kindes, das seine Frau Katia am 9. November 1905 zur Welt brachte, an seinen Bruder Heinrich: „Es ist also ein Mädchen: eine Enttäuschung für mich, wie ich unter uns zugeben will, denn ich hatte mir sehr einen Sohn gewünscht und höre nicht auf, es zu thun. (...) Ich empfinde einen Sohn als poesievoller, mehr als Fortsetzung und Wiederbeginn meiner selbst unter neuen Bedingungen.“ Für den lebenslang mit seiner Homosexualität ringenden Thomas Mann löste sein erstes Kind aber doch eine verquaste Hoffnung aus: „Und vielleicht bringt mich die Tochter innerlich in ein näheres Verhältnis zum ,anderen‘ Geschlecht, von dem ich eigentlich, obgleich nun Ehemann, noch immer nichts weiß.“ Erika Mann (1905 bis 1969) begann 1924 nach dem Abitur eine Schauspielausbildung, die sie aber wegen zahlreicher Bühnenverpflichtungen nicht zu Ende brachte. Sie gründete in München das Kabarett „Pfeffermühle“ und war nach dem Tod von Thomas Mann dessen Nachlassverwalterin. Klaus Mann (1906 bis 1949, Suizid) galt als talentierter Autor. Sein Roman „Mephisto“ konnte bis 1981 in der Bundesrepublik nicht erscheinen. Ein Erbe des Schauspielers Gustaf Gründgens hatte das Verbot erwirkt. Das Buch handelt vom opportunistischen Schauspieler Hendrik Höfgen, der im Nationalsozialismus zum Intendanten des Berliner Staatstheaters aufsteigt. Dass dies die Geschichte Gründgens’ ist, war allgemein bekannt Golo Mann (1909 bis 1994), Historiker und Autor der auflagenstarken „Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ und der Biografie „Wallenstein. Sein Leben erzählt von Golo Mann“. Monika Mann (1910 bis 1992), Pianistin und Schriftstellerin. Thomas Mann glaubte nicht an ihr Talent, Katia Mann schimpfte über die „geschmacksunsicheren Produkte dieser dummen Person“. Monika verliebt sich 1954 in einen Fischer und lebt 30 Jahre mit ihm auf Capri. Elisabeth Mann (1918 bis 2002), war ausgebildete Pianistin, heiratete 1939 den 36 Jahre älteren italienischen Historiker und Antifaschisten Giuseppe Antonio Borgese. 1963 veröffentlichte sie ihr erstes wissenschaftliches Werk „Aufstieg der Frau – Abstieg des Mannes?“, 1970 organisierte sie die erste internationale Seerechtskonferenz auf Malta. 1980 wurde sie in Halifex (Kanada) Professorin für Internationales Seerecht. Das UN-Seerechtsübereinkommen von 1982 und die Gründung des Internationalen Seegerichtshof in Hamburg gehen auf ihre Initiative zurück. Michael Mann (1919 bis 1977, vermutlich Suizid), Geiger und Bratschist, später Germanistikprofessor in Berkeley (Kalifornien). Kann ein Leben gelingen, an dessen Beginn der Vater solch eine Haltung zeigt? Zwar räumt der Schriftsteller später ein, dass Erika ihm eine wichtige Stütze und, was politische Dinge betraf, eine Quelle von Einsichten war. Doch um neben dem Pater familias und den anderen schriftstellerisch begabten Clanmitgliedern wahrgenommen zu werden, musste Erika gewaltige Anstrengungen auf sich nehmen. Die Germanistin Anja Maria Dohrmann schreibt in ihrer Abhandlung „Erika Mann. Einblicke in ihr Leben“, die Erstgeborene sei „das Allroundtalent der Familie“ gewesen: „Schriftstellerin, Journalistin, Schauspielerin, Kinderbuchautorin und politische Rednerin.“ Vergessen hat die Biografin eine weitere Qualifikation: Automechanikerin hat Erika Mann schnell noch gelernt, bevor sie 1931 gemeinsam mit ihrem Kindheitsfreund Ricki Hallgarten am 10 000-Kilometer-Autorennen quer durch Europa teilnahm – und natürlich am Ziel auf dem Berliner Kurfürstendamm als erste ankam. Das Auto unterstützte ihr rastloses Leben. Gustaf Gründgens führt Regie: Wie diffizil die Existenz der Erika Mann war, zeigt sich schon bei einem ihrer ersten öffentlichen Auftritte im Jahr 1925. Bei der Aufführung von „Anja und Esther“, eines Adoleszenz-Dramas ihres Bruders Klaus, spielen sie und Pamela Wedekind, Tochter des Dramatikers Frank Wedekind, ein lesbisches Mädchenpaar. Klaus Mann war damals mit Pamela verlobt, Erika war nicht nur in der Rolle der Anja in sie verliebt. Neben dem schwulen Klaus Mann spielte der ebenfalls homosexuelle Gustaf Gründgens eine männliche Hauptrolle, den Jüngling Jakob. Und er führt auch Regie. Gründgens wird im Jahr darauf Erika Mann heiraten, die Ehe hält keine drei Jahre. Die Uraufführung von „Anja und Esther“ in den Hamburger Kammerspielen gerät zum Publikumserfolg. Alle Welt will den Auftritt der „Dichterkinder“ Erika, Klaus und Pamela erleben. Von der Kritik wird das Stück verrissen. Ein Rezensent schreibt: „Die Gestalten, die es auf die Bühne bringt (...), reden und reden, bis man das intensive Bedürfnis hat, irgend jemanden in den Bauch zu treten, damit wenigstens irgend etwas geschieht.“ Erika Mann wird politisch: Im Leben der Erika Mann geschieht von da an immer etwas. Etwas Spektakuläres. 1932, als die Nazis nach der Macht in Deutschland greifen, ist Schluss mit Jeunesse dorée, sie wird politisch. Über den aufstrebenden Adolf Hitler schreibt sie: „Und noch ehe er da war, hatte ich keine Lust mehr am bloßen Theaterspielen, sondern wünschte, mich gegen ihn zu betätigen.“ Ende des Jahrs 1932 gründet sie in München gemeinsam mit Bruder Klaus und Therese Giehse, Theaterstar jener Tage, das Kabarett „Die Pfeffermühle“. Erika Mann organisiert den Betrieb, sie schreibt die meisten Texte und tritt als Conférencier auf. Was als literarische Kleinkunst anfängt, entwickelt sich rasend schnell zur Verteidigungsanstalt der labilen Demokratie. „Ich weiß“, schreibt Erika später, „dass solch eine ,Kleinkunstbühne‘ fast nichts bedeuten kann innerhalb des großen Welttheaters. Aber ebenso sehr weiß ich, dass jede künstlerische Arbeit ihre Gesinnung, ihre innere Haltung haben muss und dass es wertlos wäre, auch nur Kabarett zu machen und Liedchen zu schreiben, wenn nichts dahinter stünde, keine Meinung, kein Glaube und keine Hoffnung.“ „Plattfüßige Friedenshyäne“: Die Hoffnung ist schnell dahin. Nach Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 kann die „Pfeffermühle“ nur noch wenige Wochen ihr Programm aufführen – immerhin vor stets ausverkauftem Haus. Das Nazi-Blatt „Völkischer Beobachter“ hat sich bereits auf Erika Mann eingeschossen, sie wird als „plattfüßige Friedenshyäne“ und „berüchtigte Tochter ihres ebenso berüchtigten Vaters“ beschimpft. Die gesamte Familie Mann muss emigrieren, in der Schweiz versucht Vater Thomas sich einzurichten. Erika und Klaus Mann betreiben ihr Kabarett-Projekt „Pfeffermühle“ noch einige Monate in Zürich und auf Tournee. Nach Deutschland zurück kommt Erika Mann erst wieder 1945, als Kriegskorrespondentin mit britischem Pass – sie hat mittlerweile den homosexuellen englischen Literaten W. H. Auden geheiratet – und im Offiziersrang der US-Armee. Erika Mann muss sich in den 1930er Jahren neu erfinden. Das fällt ihr nicht schwer. Anders als ihr Vater, der für sich einst „Lübeck als geistige Lebensform“ in Anspruch nahm, ist sie Kosmopolitin. Die nächste Exil-Station ist New York. Hier wird die Schauspielerin zur viel beschäftigten Rednerin. Ihr Thema: der Kampf gegen den barbarischen Nationalsozialismus. An ihre Mutter schreibt sie: „Ich selber muss nun (...) fast ohne jede Unterbrechung speaches abhalten, – für Jud und Christ, – es macht nichts, und wovon sollte ich schließlich sonst leben? „Du sprichst als meine Tochter“: Thomas Mann lässt sie auch hierbei nicht aus den Fängen. Zu einem Auftritt seiner Tochter im Madison Square Garden vor 23 000 Menschen schreibt er ihr: „Du sprichst dort als selbständige Persönlichkeit, zugleich aber tust Du es gewissermaßen an meiner Statt als meine Tochter und als meines Geistes Kind.“ Und als Erika 1941 von der BBC London eingeladen wird, Sendungen in deutscher Sprache für den Auslandsdienst aufzunehmen, schreibt Thomas Mann, inzwischen auch in die USA emigriert: „Und muss man ihnen (den Briten) nicht helfen, wie man kann? Schickt ihnen destroyers! Ich gehe mit gutem Beispiel voran und schicke ihnen meine Tochter.“ In den Nachkriegsjahren verliert Erika Mann ihren Hauptfeind, die Nazis, auch wenn sie die Kriegstreiber und Antisemiten in Deutschland weiterhin am Werk sieht. Die USA verweigern ihr die Staatsbürgerschaft, auch weil das FBI ihr ein inzestuöses Verhältnis zum Bruder Klaus unterstellt. Sie verliert zudem ihre Hauptbezugsperson: Klaus nimmt sich 1949 das Leben. Wie er kommt sie nie ganz von Drogen los, wie er ist sie zunehmend verbittert, auch weil die künstlerische Bestätigung ausbleibt. Und sie überwirft sich mit vielen Wegbegleitern. Der Vater notiert in seinem Tagebuch über die Tochter: „Zu viel Charakter macht ungerecht.“ Sie kürzte die Manuskripte ihres Vaters: Doch anders als Klaus ist sie weiter lebensfähig. Halt gibt ihr die Arbeit für den Vater, den „Zauberer“, für den sie so etwas wie seine Managerin wird. Wieder zurück in der Schweiz, ist ihm ihre Hilfe unentbehrlich, ohne Erika trifft er keine wichtige Entscheidung mehr, sie darf sogar seine Manuskripte kürzen. Sie begleitete ihren Vater bei seinen Reisen, auch nach Lübeck, wo er 1955 die Ehrenbürgerschaft erhält. Er stirbt im selben Jahr, kurz nach seinem 80. Geburtstag, danach kümmert sie sich um seine Hinterlassenschaften. Auch das Werk ihres Bruders Klaus verwaltet sie und geht gegen alle vor, die daran herumflicken wollen – Verleger, Kritiker, Filmemacher. Sie schreibt an den Drehbüchern für die Thomas-Mann-Verfilmungen „Königliche Hoheit“ und „Felix Krull“ mit und besetzte sich selbst in kleineren Rollen – sicherheitshalber. Drei Bände mit Briefen Thomas Manns gibt sie heraus, heikle Passagen kürzt sie. Krankheiten im Kalten Krieg: Sie sei jetzt die „Nachlasseule“, bekennt Erika Mann. Eigene Projekte liegen brach. Sie führe ein „limitiertes, kontrolliertes und kommentiertes Privatleben“, schreibt Signe von Scanzoni, eine ihrer letzten Freundinnen. Eine „immer stärker dosierte Mischung von Krankheit und Arbeit“ kennzeichne ihre letzten Jahre, aber auch der unerfüllte Wusch nach etwas Liebe. Sie selbst schreibt 1962 in einem Brief mit der Ironie, die alle ihre Selbstauskünfte durchzieht: „Meine Krankheiten liegen miteinander im Kalten Krieg.“ Am 27. August 1969 stirbt sie an einem Gehirntumor. Diejenigen, die sie gut kannten, bezeugten, dass dieses 63 Jahre währende, vom großen Welttheater geprägte Leben der Erika Mann eine tragische Bilanz zeitigte. „Die allzu enge Bindung an einen extrem ichbezogenen Vater verstellte ihr den Weg ins eigene Leben“, sagte die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger. Und die jüngste der Mann-Töchter, Elisabeth Mann Borgese, rief ihr in einem Interview nach: „Es war ihre selbstzerstörerische Ader. Die hatte sie, davon bin ich überzeugt. Klaus hat sich umgebracht, Erika starb langsam. Sie hat sich durch ihr Leben ruiniert.“ Von Michael Berger

Thomas Mann - Mehr als nur die Tochter – Erika Mann starb vor 50 Jahren