Wagner-Festspiele: Wer wird als erste Frau in Bayreuth dirigieren?

Seit 1876 haben 92 verschiedene Dirigenten in Bayreuth Opern von Richard Wagner musikalisch geleitet. Darunter waren die größten des Zwanzigsten und Einundzwanzigsten Jahrhunderts: Arturo Toscanini, Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan, Daniel Barenboim oder Kirill Petrenko. Aber es gab auch durchaus Schwächere, deren Engagement aufgrund ihrer dirigentischen Fähigkeiten nicht unbedingt zwingend war. Weltklasse oder nicht – alles Männer: Zum Beispiel stand Placido Domingo vor zwei Jahren, kurz bevor sein Ruf nach Übergriffen auf Sängerinnen nachhaltig zerstört wurde, am Pult des Bayreuther Orchesters. Domingo ist ein Weltklassetenor im italienischen Fach, aber nur ein Nebenerwerbsdirigent. In den ersten Jahren der Festspiele wurden auch Familienmitglieder oder Nahestehende auserwählt, um Orchester, Chor und Solisten zu leiten: Richard Wagners Sohn Siegfried, sein Schwiegersohn Franz Beidler oder der Regisseur Heinz Tietjen – in der Nazizeit der Geliebte der Intendantin Winifred Wagner. Kein Vergleich mit Künstlern wie Toscanini oder Petrenko. Weltklasse oder nicht, eines hatten die bisherigen 92 Bayreuther Dirigenten gemein: Es waren alles Männer. Die Bayreuther Festspiele, auch Richard-Wagner-Festspiele, sind ein Festival, das den zehn letzten Opern Richard Wagners (1813– 1883) gewidmet ist. Das Festival findet seit 1876mit Unterbrechungen, seit 1951 alljährlich im eigens dafür vom Komponisten gemeinsam mit dem Architekten Otto Brückwald (1841–1917) geschaffenen Festspielhaus auf dem Grünen Hügel in Bayreuth statt. Wagner wünschte sich damals ein Theater, an dem er als Komponist, Dichter, Dramaturg und Intendant seine Vorstellungen vom Gesamtkunstwerk verwirklichen konnte. Dieses sollte sich, abseits der Metropolen, voll und ganz seiner Werke widmen. 1871 entschied er sich für Bayreuth als Standort. Die künstlerische Leiterin der Festspieleist heute seine Ur-Enkelin Katharina Wagner, derzeit längerfristig krank. Bisher nur von Männern dirigiert: Noch nie stand eine Frau bei einer Vorstellung der Festspiele am Pult des Orchesters auf dem Grünen Hügel. Nächstes Jahr soll es dann endlich so weit sein. Wenn Corona es zulässt, wenn es überhaupt Festspiele im Jahr 2021 gibt, soll „Der Fliegende Holländer“ von einer Dirigentin geleitet werden. Dies wurde von Intendantin Katharina Wagner noch vor ihrer schweren Erkrankung bekannt gegeben und von der aktuellen Geschäftsführung auch nicht in Frage gestellt. Die langen, musikalisch schwierigen Opern von Wagner sind für jeden Dirigenten eine besondere Herausforderung. Sie gelten neben denen von Richard Strauss als die ultimativen Chefstücke. Wagner erfordert von allen Beteiligten eine unglaubliche Energie und Vorbereitung, setzt dann aber Kräfte frei, die im hoch komplexen Musiktheaterbetrieb überraschen. Wenn man den Apparat, der für diese Opern nötig ist, bändigt, wenn man ihn zu einem künstlerisch befriedigenden Ergebnis führt, wenn man den berühmt-berüchtigten Wagner-Sog erzeugt, dann ist das charismatische Führung. Insofern ist es zwar ein kleiner, aber doch bemerkenswerter Schritt in der Geschichte der Emanzipation, wenn an dieser „Kultstätte mit weltanschaulicher Mission“ (Wagner-Enkel Franz Beidler) zum ersten Mal eine Frau dirigiert. Verkündung Ende August: Spätestens Ende August wird erwartet, dass Bayreuth die Besetzungen der Spielzeit 2021 bekannt gibt. Von den aktuellen Star-Dirigentinnen hat Intendantin Katharina Wagner die Kanadierin Barbara Hannigan, die auf zeitgenössische Musik spezialisiert ist, und die Chefdirigentin des Birmingham Symphony Orchestras Mirga Grazinyte-Tyla bereits ausgeschlossen. Nun spekulieren insbesondere österreichische Zeitungen darüber, dass die Wahl auf die Ukrainerin Oksana Lyniw fällt. Sie war bis Juli noch Generalmusikdirektorin des Grazer Opernhauses und hat im vergangenen Jahr ein umjubeltes Jugendkonzert in Bayreuth geleitet. Ihre Karriere wird von Kyrill Petrenko, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, und Daniel Barenboim unterstützt. Die größte Erfahrung mit Wagner besitzt allerdings die Australierin Simone Young. Sie hat den „Ring des Nibelungen“ an den Staatsopern Berlin, Wien und Hamburg geleitet und in ihrer Zeit als Generalmusikdirektorin und Intendantin in Hamburg Richard Wagner umfassend gepflegt. Joana Mallwitz gilt als Aufsteigerin: Favoritin aber ist Joana Mallwitz, seit zwei Spielzeiten Generalmusikdirektorin am Staatstheater Nürnberg, wo schon Christian Thielemann seine große Dirigentenkarriere startete. Mallwitz dirigiert gerade eine formidable „Cosi fan tutte“ bei den Salzburger Festspielen. Sie hat zurzeit einen absoluten Lauf und ist die Aufsteigerin des letzten Jahrzehnts. 2019 wählte die hoch angesehene Fachzeitschrift „Opernwelt“ sie zur Dirigentin des Jahres. In Erfurt, ihrer vorherigen Chefstelle, war sie die jüngste Generalmusikdirektorin Europas. Mallwitz` Herkunft aus Nürnberg mag nicht entscheidend sein. Aber wenn die Nürnberger Dirigentin in Bayreuth engagiert wird, ist es doch ein wichtiges Zeichen an die bayrische Landesregierung, die beim Ausgleich des coronabedingten 15-Millionen-Defizits der Bayreuther Festspiele die Hauptlast wird tragen müssen. Dirigiert den „Holländer“ auch in Amsterdam: Und noch etwas anderes spricht für Mallwitz: Im Gegensatz zu Lyniv hat sie den Auftritt in Bayreuth über Jahre sorgfältig vorbereitet. An der lettischen Nationaloper Riga dirigierte sie „Rheingold“ und „Götterdämmerung“, in Erfurt „Meistersinger“, in Nürnberg „Lohengrin“. Im Februar 2021 ist sie für den „Holländer“ an die Niederländische Nationaloper in Amsterdam engagiert worden. Es handelt sich um hochklassige Koproduktion mit der Metropolitan Opera New York. Eine bessere Generalprobe für Bayreuth kann es gar nicht geben. Es spricht also sehr viel dafür, dass „Der fliegende Holländer“ nächstes Jahr in Bayreuth von Joanna Mallwitz dirigiert wird. Von Christian Schwandt