William Kentridges Werk in den Deichtorhallen

Die Tragödien des afrikanischen Kontinents sind zahlreich und vielfältig. Die meisten haben mit dem Kolonialismus zu tun. Das geringste dieser Trauerspiele ist vermutlich, dass der bedeutendste Künstler des gesamten Erdteils ein Weißer und damit ein Nachfahre der Kolonialherrn ist: William Kentridge, 1955 in Johannesburg geboren, kommt immerhin aus einer Familie von Kolonialismus-Gegnern und Anwälten schwarzer Bürgerrechtler wie Nelson Mandela. William Kentridge versteht sich als politischer Künstler, der den südafrikanischen Wandel von 1990 mit seinem Werk begleitet hat. „Meine Arbeit ist eine Ausgeburt der brutalisierten Gesellschaft, die die Apartheid hinterlassen hat“, erklärte er 1986, als noch das weiße Minderheitsregime blutig herrschte. Die Ausstellung „William Kentridge – Why Should I Hesitate: Putting Drawings to Work”, Deichtorhallen Hamburg, bis zum 21. April 2021. Der gleichnamige Katalog ist im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König erschienen, 88 Seiten, 18 Euro. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 11 bis 18 Uhr, jeden 1. Donnerstag im Monat bis 21 Uhr. www. Deichtorhallen.de Große Teile seines Werkes der letzten vier Jahrzehnte sind jetzt in der großen Deichtorhalle von Hamburg zu sehen. Und wie so oft bei den Ausstellungen in dieser Kathedrale des Industriezeitalters wird man auch als zugewandter Kunstrezipient von der Menge und Wucht der präsentierten Werke überwältigt. „Why Should I Hesitate: Putting Drawings to Work” heißt die aus Johannesburg importierte Schau, die gestern in Abwesenheit des Künstlers eröffnet wurde – die Pandemie hat seine Anreise verhindert. „Steinzeitliches Filmemachen“: Der erste Teil des Titels bezieht sich nach Auskunft von Deichtorhallen-Chef Dirk Luckow auf die Aussage eines afrikanischen Mannes, der im ersten Weltkrieg als Soldat in die europäischen Schlachten ziehen sollte: „Warum sollte ich mich beeilen?“ Der zweite Teil könnte mit „Zeichnungen arbeiten lassen“ übersetzt werden. Und darum geht es beim überwiegenden Teil der Exponate: Kentridge, der begnadete Zeichner mit Kohle, Bleistift und Pastellfarben, belässt es nicht beim Illustrieren auf Einzelblättern, er lässt seine Figuren arbeiten. Seine Animationsfilme, von denen ein Dutzend in Hamburg zu sehen sind, bestehen aus gezeichneten Einzelbildern, die der Künstler immer wieder ausradiert, verändert und jedes abfotografiert. Aus Zelluloid wird später digitales Filmmaterial. „Steinzeitliches Filmemachen“ nennt er diese Technik. Es sind zumeist düstere Episoden, die die Geschichte und die sozialen Zustände in Südafrika reflektieren. Da ahnt man in „Tide Table“ (Gezeitentabelle) prekäre Zustände in Aids-Krankenhäusern, während Kühe am Strand zu Skeletten abmagern, in „Johannesburg, 2nd Greatest City after Paris“ (Johannesburg, zweitgroßartigste Stadt nach Paris) umkreist eine bedrohliche Flut von Demonstranten mit roten Fahnen ein nacktes weißes Paar. Und im Film „Ubu Tells the Truth“ (Ubu sagt die Wahrheit) taucht Alfred Jarrys grotesker König von 1896 auf, um die „Wahrheits- und Versöhnungskommission“, die nach der Apartheid die Menschrechtsverletzungen aufdecken sollte, an der Nase herumzuführen. Wie ein mittelalterlicher Totentanz: Kentridges „Ubu“-Film war 1997 Teil eines Theaterstücks, das von der berühmten „Handspring Puppet Company“ aufgeführt wurde. Denn das macht der Alleskönner neben Zeichnungen, Drucken, Filmen und Skulpturen auch noch: Er schreibt für das Theater und inszeniert an vielen Theatern, auch in Europa. Zuletzt brachte er 2017 Alban Bergs Oper „Wozzeck“ bei den Salzburger Festspielen auf die Bühne. In einer Videoinstallation sind Vorarbeiten zum Theaterstück „Head and the Load“ zu sehen, bei dem auf einer 50 Meter langen Bühne 40 Schauspieler das Schicksal von afrikanischen Soldaten darstellen, die im Ersten Weltkrieg als Träger eingesetzt wurden. Riesig auch eine weitere zentrale Arbeit: Auf Leinwänden, die die ganze Breite der Halle einnehmen, sieht man eine Prozession von Tänzerinnen, Kranken, Skeletten, Musikern einer Blaskapelle als Schattenrisse in einer dieser düsteren gemalten Kentridge-Landschaften vorüberziehen. Wie ein mittelalterlicher Totentanz mutet dieser Aufzug an, auch, die Musik einer Brass Band dazu ist aber eher heiter. Das Werk entstand 2015, als in Westafrika das Ebolafieber grassierte. Zu sehen sind auch putzige Daumenkinos, aus Lexika hergestellt, große Wandteppiche, auf denen Figuren sich über Landkarten des 18. Jahrhunderts schleppen, als in Europa Aufklärung und Kolonialismus zugleich herrschten, auch eher intime Zeichnungen, die in intimen Räumen gezeigt werden. Die Ausstellungsarchitektur der Brüsseler Bühnenbildnerin Sabine Theunissen teilt das ganze große Werk in kleine Einheiten auf, der Parcours durch die Ausstellung erlaubt einen Blick in die Werkstatt des Künstlers und auf öffentliche Aufträge wie den 500 Meter langen Fries am Ufer des Tibers, der die römische Geschichte von 2000 Jahren unter besonderer Berücksichtigung der heutigen Flüchtlingssituation in Italien darstellt. Kentridge hat die Bilder von „Triumph und Wehklagen“ in die Schmutzschicht der Mauern gezeichnet. Sie werden in den kommenden Jahren in neuen Ablagerungen verschwinden. Schwarz-Weiß-Vision der Regenbogen-Nation: Deichtorhallen-Intendant Dirk Luckow vergaß gestern nicht, darauf hinzuweisen, dass Hamburg der richtige Ort sei für die bislang größte Ausstellung dieses afrikanischen Künstlers: „Am Kolonialismus hat diese Handelsstadt großen Anteil“, sagte er. Als „weißes Kind der Apartheid“ sei William Kentridge prädestiniert für die Botschaft, dass bis heute im südlichen Afrika Opfer und Täter, weiße Herren und schwarze Knechte unversöhnlich nebeneinander her leben. Die Vision von der Regenbogen-Nation bisher ist ein Mythos geblieben. Kentridge zeichnet sie schwarz-weiß. Von Michael Berger