„Zu spät aufgestanden, verschlafen“: Bei Thomas Mann im Homeoffice

„Kein Tag, an dem Thomas Mann nicht schrieb“, das behauptete eine Ausstellung des Züricher Thomas-Mann-Archivs vor einiger Zeit. Was verfasste er da Tag für Tag? „Roman-Kapitel, politische Reden und Briefe warteten auf die Verschriftlichung. Wenn er nicht auf Reisen war, war der sorgfältig eingerichtete Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer der bevorzugte Schaffensort des Schriftstellers.“ Also ein vorbildlicher Heimarbeiter, ein Mann der Stunde, Vorbild für alle, die jetzt zuhause bleiben müssen und nicht ins Büro dürfen. Die Einschränkungen, die viele Schreibtischarbeiter in der Pandemie-Gegenwart erfahren, wären diesem fleißigen Publizisten offenbar nicht als solche aufgefallen. Der Schreibtisch kam bei jedem Umzug mit: Thomas Mann „brauchte seinen festen Platz und die gewohnte Ordnung, um schreiben zu können“, berichtet Inge Jens, die es wissen muss, denn sie hat die umfangreichen Tagebücher des Literaturnobelpreisträgers aus Lübeck herausgegeben. Nur ein angemessenes Heim, sein gewohnter Schreibtisch, der ihn bei fast allen seinen Stationen im Exil begleitete, vermittelten ihm laut Jens „das Gefühl von Sicherheit und Kontinuität“. Während andere exilierte Literaten unter Manns Zeitgenossen nach 1933 ständig aus Koffern lebten, in Notunterkünften oder an Caféhaustischen schrieben, bestand er ein Leben lang darauf, auch in unsicheren Zeiten, den behaglichen Wohn- und Lebensstandard zu wahren. Als Thomas und Katia Mann 1933 im Ort Bandol an der mondänen Côte d’Azur Quartier nehmen, immerhin im Grand-Hotel, schimpft der damals 57-Jährige: „Ich finde in diesem Kulturgebiet alles schäbig, wacklig, unkomfortabel und unter meinem Lebensniveau.“ Erst als er dann einen Arbeitsplatz in der Bogenhalle seiner Suite erobert hatte, war er versöhnt: „Mein Arbeitsplatz vor der Loggia ist entschieden hübsch“, schreibt er, „und alles wäre recht gut, wenn im Hintergrund ein gesichertes Heim stünde.“ Er setzt hier die Niederschrift des dritten Teils von „Joseph und seine Brüder“ fort, eine Arbeit, die Thomas Mann insgesamt mehr als 15 Jahre geplagt hat. „Gestern und heute beschäftigt mit dem Roman. Etwas weiter geschrieben“, heißt es lapidar im Tagebuch. Seine Frau Katja musste für das passende Ambiente sorgen: Es oblag seiner Frau Katia, an den wechselnden Orten des Exils für ein Ambiente zu sorgen, das für Thomas Mann die Bezeichnung Heim verdiente. Die Hauptsache sei der Schreibtisch gewesen, berichtete Katia laut Inge Jens. „Da durfte sich nichts rühren, nichts verändern.“ Dieses wuchtige Möbel konnten die Manns nach ihrer Ausbürgerung aus Deutschland retten, er fand zunächst in der Züricher Wohnung seinen Platz, später in Princeton, der ersten Station im US-Exil, dann in Kalifornien im Neubau, den die Manns selbst in Auftrag gegeben hatten. „Home Office“ ist das Innenministerium im Englischen: Die Ordnung der Dinge für erfolgreiches „Working from Home“ („Home Office“ ist im britischen Englischen der Begriff für das Innenministerium) machte bei Thomas Mann nicht nur der Schreibtisch aus, sondern auch das Arrangement auf der Platte: „Der siamesische Krieger steht wieder vor mir. Die chinesische Aschenschale, die fehlte, hat sich wiedergefunden“, notierte er nach dem letzten Umzug in der Schweiz. Zu dieser Ordnung gehörten noch ein Tintenfass, Stahlfedern, ein nur zur Dekoration dienender Federkiel, ein paar Bilder und die strenge Arbeitskleidung: Anzug, weißes Hemd, Krawatte oder Fliege mussten sein, Thomas Mann erlaubte sich, wie viele Bilder zeigen, darin keine Nachlässigkeit. „Vielleicht ist in der dadurch verbürgten Kontinuität seiner Existenz sogar die Legitimation zu suchen für seinen Ausspruch ,Wo ich bin, ist Deutschland‘“, schreibt Inge Jens. Thomas Mann freute sich über sein Arbeitszimmer in den USA: Thomas Manns Heim war seine Burg. In den USA war er erst dann ganz zuhause, als er sein Eigenheim beziehen konnte. Produktivität erhoffte er sich „in dem schönsten Arbeitszimmer meines Lebens“, wie er an den in der Schweiz lebenden Hermann Hesse schrieb. Überhaupt Hesse: Hatte dem nicht ein Gönner ein Haus im Tessin hingestellt? „Warum ist in diesem Lande“, also in den USA, „nie eine Stadt, eine Universität auf den Gedanken gekommen, mir etwas Ähnliches anzutragen...?“ Das schrieb Mann 1941 ausgerechnet an seine Unterstützerin Agnes E. Meyer, die ihm viele finanziell lohnende Auftritte vermittelte. Er konnte sich den Bau des Anwesens am San Remo Drive Nummer 1550 in Pacific Palisades aus eigener Tasche leisten. Für eine Hypothek bürgte Frau Meyer. Lesen Sie auch 1,28 Millionen Euro – Possehl-Stiftung fördert neue „Kulturfunken“ in Lübeck Nach der Lockdown-Verlängerung: Kulturbranche hofft auf sanfte Öffnung im Frühjahr Pieter Bruegel – die Erfindung des Winterbildes Die Tagebücher des Literaten enthüllen allerdings auch negative Aspekte der Mann’schen Heimarbeit, er erlebte das, was auch heute Menschen bei der Telearbeit bedrückt: Lähmung. „Andauer des leidenden, ermüdeten und anti-aktiven Zustandes“, notiert er an Katia Manns 57. Geburtstag im Jahr 1940. Und: „Große Mühsamkeit der Arbeit.“ Einige Zeit später im neuen Haus: „Wundere mich vor Niedergeschlagenheit, dass ich bedeutende Werke hervorbrachte.“ In seinen Tagebüchern finden sich auch solche Notizen: „zu spät auf“, „zu spät auf, verschlafen“. Die „Arbeitsstimmung“ ist mal „lebhaft“ und „eifrig“, viel öfter aber „mühsam“, „versucht“ „gequält“. Thomas Mann kämpfte auch gegen Müdigkeit und Müßiggang: Ein Trost für alle heute am heimischen Schreibtisch Tätigen sind seine Unzulänglichkeiten also allemal: Auch Thomas Mann musste ständig gegen Müdigkeit, Müßiggang und Misslingen ankämpfen. Sein so gern zitiertes „Pensum“ schaffte er selten. „Er schrieb alles mit der Hand, und wenn er am Tag zwei Seiten schrieb, war das besonders viel“, berichtete Ehefrau Katia. Sein Kampf gegen den alltäglichen Blues entspricht ganz den Strategien unserer Tage: Spazierengehen. Katia machte Einkäufe, „während ich etwas promenierte“, heißt es zum Beispiel am 5. Februar 1942. Oft promeniert er „mit dem Pudel“, oder auch „mit Golo am Strand“. Thomas Mann hatte Sekretärinnen und Sekretäre: Dennoch bleibt der Autor allen zur Prokrastination, also zur Drückebergeritis, neigenden Schreibtischtätern ein ewiges Rätsel. Seine ständigen Zweifel und die seine produktive Zeit beschneidenden Rituale – Aufstehen um acht, Frühstück bis neun, danach ungestörtes Schreiben bis zwölf Uhr, nachmittags Freizeit – hinderten ihn nicht daran, ein unüberschaubares Werk von höchster literarischer Qualität zu hinterlassen. Allerdings mühte sich Thomas Mann nicht ganz alleine an der Schreibfront. Er hatte zeitweise Sekretärinnen oder Sekretäre, die seine handgeschriebenen Manuskripte abtippten, außerdem eine große Familie, in der sich viele als Zu- und Mitarbeiter des Oberhauptes begriffen. Zuallererst Ehefrau Katia, die sich seiner Texte annahm, dann aber auch zeitweise der Sohn Golo und später die Älteste Erika, die Thomas Mann als „Sekretärin, Biografin, Nachlasshüterin, Tochter-Adjutantin“ titulierte. Solch komfortable Arbeitsbedingungen haben heutige Büromenschen bei ihrer oft in beengten Verhältnissen stattfindenden Heimarbeit nicht. Dennoch kann man sich bei aller Unterschiede, was die geforderte Kreativität betrifft, im Lockdown dem Nobelpreisträger näher fühlen. Wie er, ist man auf die eigene Behausung zurückgeworfen. Im Essay „Meine Arbeitsweise“ schrieb er 1925: „Ich bin gewohnt, im Zimmer zu arbeiten. Offener Himmel, meine ich, zerstreut meine Gedanken. (...) [Ich brauche] wenigstens die Decke einer Veranda, eines Gartenhauses über dem Kopf, ein Gehäuse, das, sozusagen, die Atmosphäre des Werkes schützt.“ Von Michael Berger