nterview mit Thomas Hailer, neuer künstlerischer Leiter der Nordischen Filmtage

Thomas Hailer kennt die Nordischen Filmtage seit über 20 Jahren. Im vorigen Jahr saß er in der Jury für den NDR-Filmpreis, jetzt übernimmt er die künstlerische Leitung von Linde Fröhlich, die in den Ruhestand geht. Sein Vertrag hat am 1. November begonnen, er war nun aber noch als Gast beim Festival. Wird jetzt alles anders bei den Nordischen Filmtagen? Lübeck ist ein sehr tolles und renommiertes Festival. Es wird von seinen Zuschauern in der Stadt auf Händen getragen. Und die Branche kommt jedes Jahr gerne her, um sich ihr jährliches Update zu verschaffen. Die Nordischen Filmtage sind super beliebt. Wem immer in der Branche ich erzählt habe, was ich nun vorhabe, es gab nur glückliche Gesichter. Jetzt muss ich mich aber erst einmal anstrengen, dass ich das so gut hinbekomme wie meine Vorgängerin. Bürgermeister Jan Lindenau hat gesagt, Sie würden den Filmtagen „wichtige neue Impulse geben“ können. Was wäre das? In dieser tollen Marke ist mehr drin als fünf Tage im November. Ich könnte mir vorstellen, sie etwas weiter in die Stadt zu tragen und die Nordischen Filmtage als Kulturort über die fünf Tage hinaus zu verankern. Was heißt das? Zum Beispiel, dass Lehrerinnen und Lehrer mit ihren Klassen auch im nächsten Jahr noch unter der Flagge des Festivals Lübecker Kinos Filme ansehen können. Dass die tollen medienpädagogischen Angebote, die Franziska Kremser-Klinkertz über die Jahre aufgebaut hat, auch dann noch abrufbar sind. Und ich könnte mir vorstellen, dass man dem Filmclub-Wesen wieder Leben einhaucht. An einen sechsten oder siebten Festivaltag denken Sie nicht? Nein. Dem Festival geht es gut, es hat eine fantastische Reputation. Wir müssen uns aber Sorgen um die Kinos machen. Es gibt pessimistische Prognosen, wonach in einem Jahr 40 Prozent der Leinwände in der Bundesrepublik nicht mehr da sind. Und zwar unabhängig von der Pandemie. Das Kino ist in Zeiten von Streaming in einer strukturellen Krise. Und die wichtigste Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass in einem Jahr für die Nordischen Filmtage noch alle Leinwände zur Verfügung stehen. Kinos sind in Gefahr. Wir müssen ihnen mit der Marke NFL Solidarität beweisen und möglichst viele Besuche möglich machen. Wobei niemand weiß, ob wir im nächsten Jahr ein Festival ohne Corona erleben werden. Denken Sie an mehr Filme? Wir wissen gar nicht, was wir im nächsten Jahr auf den Tisch bekommen. Es wird derzeit ja kaum gedreht. Lesen Sie auch: Das sind die Preisträger der Nordischen Filmtage Nordische Filmtage Lübeck verlängern digitale Angebote bis Mittwoch Online statt im Kino: Nordische Filmtage 2020 ziehen trotz allem positive Bilanz Oder an mehr Länder? Warum sollte ich das tun? Es ist ein so fantastisches Festival, und Kramladen-Veranstaltungen gibt es genug. Hier ist klar, wozu geladen wird: nordische Filme. Es sind kleine, feine, ausdifferenzierte Filmindustrien, die durch eine ungeheure Diversität bestechen. Mit Regisseuren wie Lars von Trier und Aki Kaurismäki geht das in der Filmgeschichte zurück, über Ingmar Bergman bis hin zu Carl Theodor Dreyer. Der Independent-Kinderfilm ist in Skandinavien erfunden worden. Sie sagen dort: Wer in zehn Jahren Publikum haben will für sein Land, der muss sich frühzeitig kümmern. Davon kann man lernen. Und das ist ja das Coole an Lübeck: Das machen sie mit der Hanse hier schon seit Hunderten von Jahren. Man ist hier, glaube ich, stadt- und heimatverbunden, aber lässig genug, sich von anderen etwas abzugucken. Sie kommen vom Kinder- und Jugendfilm. Wird dieser Schwerpunkt des Festivals weiter ausgebaut? Ich bin vor über 20 Jahren wegen der Kinderfilme nach Lübeck gekommen. Diese Zielgruppe ist essenziell wichtig. Voriges Jahr wurden die Jurykinder beim NDR-Filmpreis gefragt, wo sie ihre Filme sehen. Da war keines dabei, das sie im Kino guckte. Und die waren fit. Das hat mich zu Tode erschreckt. Ich glaube daher, das Festival ist der Ort, um dem Publikum und gerade auch dem jungen den speziellen Reiz und die spezielle Magie des Kinos nahezubringen. Ich will die bestehende Sektion nicht aufblasen. Sie ist gut, wie sie ist, und hat internationales Renommee ohne Ende. Aber da kann man etwas draus machen. Die Schulen bekommen dieses Angebot weiter zu den günstigen Konditionen, und wir möchten, dass sie uns ihr Praxiswissen zurückspiegeln. Thomas Hailer(Jahrgang 1959) hat Germanistik und Theaterwissenschaften studiert und ist Dramaturg und Drehbuchberater. Bis 2019 hat bei der Berlinale als Kurator den Festivaldirektor Dieter Kosslick beraten. Von 2002 bis 2008 hat er die Berlinale-Sektion Generation (vormals Kinderfilmfest/14plus) geleitet. Derzeit sucht er eine Wohnung in der Lübecker Innenstadt. Voriges Jahr hatten die Filmtage 36 000 Besuche, davor auch. Ist da eine Obergrenze erreicht? Ich bin kein Zahlenmensch, aber 36 000 Besuche bei etwa 220 000 Einwohnern in Lübeck sind schon eine Ansage. Trotzdem glaube ich momentan nicht an Quantität, ich habe es eher mit der Qualität. Und dafür stehen die Nordischen Filmtage. Was muss ein guter Film haben? Er muss mich erst mal visuell wegblasen. Ich möchte in eine Welt entführt werden, in der ich möglichst noch nie war. Und wenn ich schon mal da war, möchte ich über diese Welt etwas erfahren, das ich bisher nicht wusste. Ich möchte an die Hand genommen und in ein Universum geführt werden, aus dem ich als veränderter Mensch wieder herauskomme. Das gilt für die Nordischen Filmtage gleichermaßen? Ein guter Film ist ein guter Film. Was war Ihr letzter guter Film? Ich habe im Sommer „A White White Day“ noch mal gesehen, der 2019 bei den Filmtagen den NDR-Preis erhalten hat. Und er hat mich wieder umgehauen. Sie haben lange für die Berlinale gearbeitet, wo Glamour eine große Rolle spielt. Wird er das in Lübeck künftig stärker tun? Die waren doch alle schon da. Liv Ullmann ist Ehrenpräsidentin, Thomas Vinterberg hat sich mit Frau und Kind in den Zug gesetzt und in Lübeck seinen Preis abgeholt. Aki Kaurismäki war hier, auch wenn er nicht gern reist. Natürlich ist es immer schön, wenn bekannte Schauspieler kommen. Die sind alle herzlich eingeladen, und ich werde mich auch kümmern. Aber deswegen bin ich nicht berufen worden. Wo steht das Festival in fünf oder zehn Jahren? Mein Vertrag läuft über drei Jahre, und ich habe keine großen Expansionsgelüste. Aber ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass das Festival immer noch die jetzigen Leinwände hat. Ich träume davon, dass die Filmtage in drei Jahren verstärkt ein Wissensort sein werden, wo die gesamte Branche neue Impulse zur Herausbringung von Filmen bekommt. Und es geht darum, dass die jungen Leute, die jetzt vielleicht lieber auf ihren Handys Filme schauen, in zehn Jahren in der Vorweihnachtszeit die Kinder an die Hand nehmen und in einen schönen Weihnachtsfilm gehen. Linde Fröhlich hatte eine Planstelle, Sie haben einen freien Dienstvertrag. Ist das ein Problem für Sie? Nein. Ich bin seit 35 Jahren Freelancer, das passt mir ganz gut. Und drei Jahre finde ich eine super Zeit. Da kann man viel machen. Erst mal hoffe ich, dass ich bald eine kleine Wohnung hier finde. Und dann schauen wir weiter. Von Peter Intelmann