20 Tage zu Hause: Eine Familie unter Quarantäne

Ich höre wie meine Frau Yvonne im Wohnzimmer telefoniert. Es ist eines dieser Telefonate, bei denen alle im Raum plötzlich still sind. Niemand weiß, worum es geht, aber alle spüren, dass es ernst ist. Mein Frau legt auf. Sie sagt: „Es war der Kinderarzt. Der Coronatest bei Carline ist positiv.“ Carline ist meine mittlere Tochter. Sie ist jetzt neun Jahre alt. „Das kann nicht sein“, sage ich, „ich habe heute Mittag bereits in der Praxis angerufen, da hieß es, der Test sei negativ.“ Meine Frau schüttelt den Kopf: „Doch, das Labor hat später noch mal in der Praxis angerufen und sich entschuldigt. Da soll beim ersten Mal etwas durcheinander geraten sein.“ Wir gucken uns an. Eben noch war die Corona-Krise eine Statistik. Eine Statistik, die von ganz wenigen Infektionen in Schleswig-Holstein berichtet. Eine Statistik, die weit weg vom eigenen Leben ist. Jetzt ist Corona bei uns zu Hause. Es bleibt nicht viel Zeit, die Nachricht zu verarbeiten. Kaum hat meine Frau aufgelegt, klingelt es wieder. Das Gesundheitsamt ist dran. Wir sind unter Quarantäne gestellt – und dürfen unser Haus nicht mehr verlassen. Corona-Infektion durch Zufall festgestellt: Sechs Tage vorher, es war ein Freitag, kam Carline abends von einer Freundin nach Hause. Sie nieste. Wir dachten, es wäre ihre Allergie, da sie Kaninchen gestreichelt hatte. Doch am Sonnabend kam leichtes Fieber und Schnupfen dazu, am Sonntag Husten. Am Montag war sie schon wieder seit 24 Stunden ohne Fieber und es ging ihr viel besser. Nach dem Schnupfenplan durfte sie am nächsten Tag wieder zur Schule. Doch plötzlich war auch ihre große Schwester Josefina krank. Die 14-Jährige klagte über starke Halsschmerzen. Um Scharlach oder eine Mandelentzündung auszuschließen, ging ich gleich am Dienstag mit ihr zur Infektionssprechstunde bei unserem Kinderarzt. Und weil ich ohnehin schon mal unterwegs war, nahm ich Carline mit. Die Ärztin, die unseren Kinderarzt an diesem Tag vertrat, stellte bei beiden einen Infekt fest. Ein Corona-Test sei nicht verpflichtend, da meine Frau allerdings Lehrerin ist und daher Kontakt zu sehr vielen Menschen hat, sei es zur Sicherheit möglich. Wir entschieden uns für den Abstrich. Ohne dass jemand mit einem positiven Ergebnis gerechnet hätte. Kontaktpersonen werden ermittelt: Der erste Tag wirbelt wie ein Tornado durch unser Leben. Wir müssen für das Gesundheitsamt sofort eine Liste aller Personen erstellen, zu denen unsere Tochter Kontakt hatte, wir müssen unsere Arbeitgeber informieren. Die ganze Klasse meiner Tochter und einige Lehrer, Freunde, Familie, Nachbarn müssen zum Test. Alle die näheren Kontakt zu Carline hatten, werden ebenfalls unter Quarantäne gestellt. Wir versuchen, möglichst viele Menschen zu erreichen, bevor sie vom Gesundheitsamt angerufen werden, um ihnen die Nachricht persönlich zu überbringen. Für viele wird sich das Leben zumindest in den nächsten ein oder zwei Wochen massiv ändern. Schuldig fühlen wir uns nicht – und es macht uns auch niemand einen Vorwurf. Wir sind nicht der Anfang einer Infektionskette, wir sind nur das Glied, bei dem der Corona-Virus zufällig entdeckt wurde. Auch meine Tochter hat sich bei irgend jemandem angesteckt. Wir haben das nicht herausgefordert. Wir waren in keinem Risikogebiet im Urlaub und wir halten uns an die gesetzlichen Vorschriften. Erwischt hat es uns trotzdem. Gesundheitsamt steht vor der Tür: Kaum haben wir die Personenliste per Mail abgeschickt, klingelt es schon wieder. Dieses Mal an der Haustür. Die freundliche Dame vom Gesundheitsamt ist da, mit Mund-Nasenschutz und extra einer dieser Plastikscheiben vor dem Gesicht. Meine Frau, ich und leider auch unser kleiner Sohn Mats (6) müssen einen Abstrich machen. Josefina, bei der der erste Test negativ war, braucht erstmal keinen zweiten Test. Ich will ehrlich sein: Es tut nicht weh, aber wenn einem jemand ein Wattestäbchen derart tief in die Nase steckt, ist das ziemlich unangenehm. Damit mein Sechsjähriger keine Panik bekommt, legen Yvonne und ich beim Test den Hinterkopf an die Hauswand, damit wir nicht zurück zucken. Mats lässt den Abstrich machen, und weint erst als es vorbei ist. Ich trage ihn auf dem Arm durch das Haus und beruhige ihn. Isolation abgebrochen: Carline soll eigentlich isoliert werden, zur Not könne ein Elternteil bei ihr bleiben, müsse dann aber eine längere Quarantäne in Kauf nehmen. Meine Frau zieht mit Carline in das Kinderzimmer und das Schlafzimmer, ich bleibe mit Josefina und Mats im Erdgeschoss. Wenn jemand ins Bad oder in die Küche will, muss er rufen „Achtung, ich komme jetzt aus dem Zimmer“ damit die anderen aus dem Weg gehen. Doch wie erkläre ich einem Sechsjährigen, dass er seine Mutter nicht in den Arm nehmen darf, obwohl sie doch nur einige Meter entfernt ist. Nach zwei Tagen und der Rücksprache mit dem Kinderarzt heben wir die Isolation auf. Wir sind alle wieder als Familie zusammen, auch wenn wir dafür jetzt insgesamt 20 Tage in Quarantäne bleiben müssen. Ja, ist denn schon Weihnachten? Es ist gerade einmal der dritte Tag und schon fällt ein befürchteter Satz zum ersten Mal. „Papa, mir ist langweilig“, sagt mein Sohn und zieht an meinem Ärmel. Keine Freunde treffen, keine Ausflüge, kein Sportverein, immer auf dem Grundstück bleiben. Die nächsten Wochen werden eine große Herausforderung. Ich beschließe, dass wir jetzt nach dem ersten Schreck und bei dem, was vor uns liegt, eine Aufmunterung brauchen. Auf die Einkaufsliste für die Verwandten schreiben wir: „ganz viel Naschi aller Art“. Ach so, und ich ziehe Weihnachten vor. „Jeder von euch darf sich online etwas zum Spielen bestellen“, verkünde ich den Kindern, und schon ist die Stimmung wieder ganz oben. Wer unter Quarantäne gestellt wird, bekommt das schriftlich: Das Gesundheitsamt teilt den Betroffenen darin mit, dass sie die ihnen „zugewiesenen Räumlichkeiten“, meist die eigene Wohnung, nicht ohne Genehmigung verlassen dürfen. Untersuchungen einschließlich Blutentnahme müssen geduldet werden und Betroffene sind verpflichtet über ihren Gesundheitszustand Auskunft zu geben. Wer der Anordnung nicht Folge leistet, muss mit erheblichen Konsequenzen rechnen. „Rein vorsorglich“ wird man auch darauf hingewiesen, dass Zuwiderhandlungen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren und einer Geldstrafe bestraft werden kann. Zudem komme eine „zwangsweise Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung in Betracht“ um die Quarantäne sicher zu stellen. Paketdienst mit Mundschutz: Wenige Tage später kommt der Paketdienst mit Carrera-Bahn, Barbiepuppe, Kuscheltier und bunten Perlen, die sich die Mädchen in die Haare flechten wollen. Offenbar ist der Onlinehändler informiert worden. Er schickt uns vorher eine Mail, in der steht: „Wir stellen die Pakete jetzt vor ihrer Haustür ab und nehmen einen sicheren Abstand ein, bevor Sie die Sendung entgegennehmen.“ Der Kurier steht dann tatsächlich mit Mundschutz vor der Tür und schiebt uns die Pakete vorsichtig entgegen, um dann schnell wieder zurück zu springen. Am Abend spiele ich Rennautos mit den Kindern und habe irgendwann auch bunte Perlen in der Farben meines Lieblingsfußballvereins HSV in den Haaren. Es sieht ja eh keiner so lange wir zu Hause gefangen sind. Bis auf die Verwandten, Freunde oder Nachbarn, die immer wieder vor der Tür stehen, um uns liebevoll mit Kuchen, Schokolade oder anderer Nervennahrung zu versorgen. Geregelter Tagesablauf: Wir haben uns für einen geregelten Tagesablauf entschieden. Spätestens um acht Uhr stehen alle auf. Wir frühstücken gemeinsam, dann unterrichtet Yvonne die Kinder vormittags im Wohnzimmer. Ich habe mir im Schlafzimmer ein Büro aufgebaut und schreibe aus dem Homeoffice. Am Wochenende stellen wir uns manchmal vor, dass wir einen Ausflug machen. Yvonne backt Kuchen, alle ziehen sich hübsch an und wir gehen gemeinsam ins Bauerncafe in unserem Garten und danach noch in den Streichelzoo zu den drei Meerschweinchen meiner Kinder. Ein Freund ruft an und fragt mich, ob wir Angst hatten, als wir die Diagnose Corona bekamen. Merkwürdigerweise nicht. Vielleicht lag es daran, dass meine Tochter schon wieder fast gesund war, als wir es erfahren haben, und dass wir anderen gar keine Symptome hatten. Als dann noch der erste Test der Familienmitglieder negativ war, war da so eine tiefe innere Zuversicht, aus der nach wenigen Tagen sogar ein wenig Dankbarkeit wurde. Wir hatten keinen schweren Krankheitsverlauf und wir konnten in unseren großen Garten. Was sollten andere sagen, denen es schlechter ging und die während der Quarantäne vielleicht in einer engen Wohnung eingepfercht waren? Nicht alles läuft glatt: Es ist die zweite Woche. Carline ist wieder frei. Wir wurden alle negativ getestet, auch sie. Das heißt, sie hat die Krankheit überwunden und ist nicht mehr ansteckend. Wir anderen müssen aber alle noch weiter in Quarantäne bleiben, weil wir uns ja theoretisch am Tag vor dem Test noch angesteckt haben könnten. Das Gesundheitsamt gibt sich viel Mühe. Alle sind freundlich und hilfsbereit. Zugleich ist aber zu spüren, wie einmalig diese Situation auch für Behörden und Ärzte ist und wie holperig die neuen Abläufe, bei denen sich Gesundheitsamt, Kassenärztliche Vereinigung und Labor abstimmen müssen, manchmal noch sind. Das führt leider dazu, dass nicht nur die Ansprechpartner, sondern auch die Informationen häufig wechseln. Zunächst heißt es, dass zum Abschluss meine Frau, Josefina und Mats noch mal getestet werden müssen und wir am Ende der zweiten Woche einfach nachmittags beim Zentrallabor vorbeifahren sollen. Dann sollen wir einen Termin für den Sonnabend bekommen, als sich Freitag noch niemand gemeldet hat, rufen wir an. Jetzt sollen wir doch spontan vorbeikommen. Vor Ort heißt es dann aber, dass doch nur meine Frau noch einmal abgestrichen werden soll. Die Kinder jubeln. Leider zu früh. Einen Tag vor dem Ende der Quarantäne wird das Gesundheitsamt noch mal anrufen, um uns mitzuteilen, dass die beiden nicht wieder in die Schule dürfen, weil sie doch einen Test hätten machen müssen. Wir ärgern uns, weil Mats gerade in die erste Klasse gekommen ist und durch den vergessenen Test jetzt noch mehr Tage zu Hause bleiben muss. Was mir aber gefällt: Die Behörde entschuldigt sich nicht nur für den Fehler, die Mitarbeiterin will auch ganz genau wissen, wie es dazu gekommen ist, um die Abläufe für die Zukunft zu verbessern. Lange Tage zum Schluss: Es ist Wochenende und es sind noch wenige Tage, die wir durchhalten müssen. Aber jetzt wird es zäh. Die Carrera-Bahn verliert langsam die Faszination. Ich stehe im Garten und starre vor mich hin. Die Hecke ist geschnitten, der Schuppen aufgeräumt. Es ist einfach nichts mehr zu tun. Meine Frau, Mats und ich fangen an im Garten zu joggen, bestimmt Hundert Mal die gleiche Runde. Es ist einfach nicht das gleiche wie im Wald zu laufen. Schließlich entdecken die Kinder die alten Spiele wieder neu. Sie spielen im Garten „Vogelfrei“. Das ist ein Versteckspiel. Ich höre Josefina rufen: „Carline hinter dem Trampolin. Ab.“ Schließlich gehe ich rüber zu meinen Kindern und stelle eine Frage, die ich zuletzt vor ungefähr 35 Jahren gestellt habe: „Darf ich mitspielen?“ Tag 20: Es ist vorbei. Wir dürfen raus. Oft haben wir in den vergangenen Tagen darüber nachgedacht, was wir an diesem Tag wohl als erstes tun. Doch in Wahrheit ist das Ende einer Quarantäne ganz unspektakulär. Meine Frau geht zur Arbeit, ich fahre meine große Tochter zum Praktikum und setzt mich auch wieder an den Schreibtisch. Am Abend wird es dann zumindest für den Mitarbeiter eines Getränkemarktes noch spektakulär. Ich bringe Leergut weg. 19 Kisten. Ich lächle den Mitarbeiter an und sage: „Tja, Großfamilie in Quarantäne.“ Lesen Sie auch Corona in Schleswig-Holstein und Lübeck: Aktuelle Zahlen am 25.09.2020 Reisewarnung: Was Dänemark-Urlauber im Corona-Risikogebiet wissen müssen Schleswig-Holstein: Das müssen Reiserückkehrer wissen Von Sven Wehde