Boostedt Warum junge Menschen zur Bundeswehr gehen

Clara Schade hat einen sonderbaren Begleiter. Ein schwarzes Ungetüm, das sie nie aus den Augen lässt. Es ist 3,63 Kilo schwer und 1,02 Meter lang. Es ist das Sturmgewehr G36. Kaliber 5,56 mal 45 Millimeter Nato-Standard. Schwarz, aus Kunststoff, Metall— und tödlich. Die Dienstwaffe von Bundeswehrsoldaten ist während der dreimonatigen Grundausbildung der ständige Begleiter der jungen Wehrdienstleistenden. Die 21-jährige kommt aus der Nähe von Soltau. Sie ist eine von 47 Marine-Infanterie-Anwärtern der 6. Inspektion, die an der Marineunteroffizierschule (MUS) in Plön ausgebildet werden. Sie ist freiwillig bei der Bundeswehr, denn seit dem 1. Juli 2011 muss kein Deutscher mehr den Dienst an der Waffe leisten. Für 18 Monate hat sie sich verpflichtet. Zwei Monate ist sie bereits dabei. Doch was motiviert die junge Matrosin, Teil der deutschen Streitkräfte zu werden und im schlimmsten Fall eines Tages in den Krieg zu ziehen? Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an Warum eine junge Rekrutin den Dienst an der Waffe leistet und eines Tages womöglich in den Krieg zieht. Ein Beitrag geteilt von Lübecker Nachrichten Online (@ln_online) am Sep 29, 2019 um 12:17 PDT „Voll im Tunnel“ beim ersten Schießen: Zweiter Tag der Schießausbildung. Bundeswehr Schießplatz in Boostedt. Insgesamt drei Tage trainieren die Rekruten hier das Schießen mit scharfer Munition. An der Pistole hat sich die Matrosin bereits am Tag zuvor ausprobiert. Jetzt schießt sie erstmals mit dem G36. Unruhig zupft sie am Tragriemen – sie wirkt nervös. „Bahn eins bis vier. Geradeaus. Anschlag, liegend, aufgelegt – Stellung“, sagt der Zugführer der Grundausbildung, Benjamin Röder. Befehl. Gehorsam. Die vier Infanteristen legen sich auf die Matte vor ihnen. Die Zielscheiben sind 250 Meter entfernt. Mehr zum Thema: Die Bundeswehr will attraktiver werden Clara Schade atmet ruhig. Ihr Brustkorb senkt sich. Sie hält inne. Beißt sich auf die Lippen. Nur Sekunden — und peng. Die Schulterstütze ihres G36 gräbt sich in ihre Schulter. Ihr Oberkörper macht einen Ruck zurück. Wie bei einem China-Böller, der in unmittelbarer Nähe explodiert, geht der Druck des Knalls den Schützen durch Mark und Bein. Die Luft ist erfüllt von schwerem Schwefelgeruch — wie nach einer Silvesternacht. Schade nimmt das Auge vom Zielfernrohr, die Zielscheibe ist stehen geblieben. Verfehlt. „In dem Moment wo man schießt, ist man sehr nervös. Das Drumherum hört man, sieht man, riecht man. Ich nehme es aber nicht wahr, bin voll im Tunnel.“ Noch sind es Zielscheiben, später möglicherweise echte Menschen: Tagelang hat sie in Übungseinheiten an dem Sturmgewehr rumhantiert. Zerlegte das Ding in seine Einzelteile. Brachte Verschlussträger, Kunststoffgehäuse und Magazin in richtiger Reihenfolge wieder zusammen. Jetzt wollte sie es auch ausprobieren. Angst hatte sie keine. „Es ist zwar ungewohnt und respekteinflößend, aber ich freue mich drauf.“ Dass sie an der Waffe ausgebildet wird, um im Ernstfall Menschen zu töten, ist ihr bewusst. „Wenn man für die Ausbildung unterschreibt, dann unterschreibt man auch dafür. Anders herum wär es für mich nicht nachvollziehbar, die Ausbildung zu beginnen und nicht zu schießen.“ Gerade wer einer Infanterie-Einheit beitritt, wird später an vorderster Front sein — als Kampfschwimmer, Minentaucher oder im Einsatzkommando, um Schiffe zu evakuieren. Zweiter Versuch. Sie atmet tief durch, starrt ins Zielfernrohr — und setzt zum nächsten Schuss an. Ihr Brustkorb senkt sich und stockt erneut. Wie automatisch wiederholt sie die Bewegungsabläufe. Sie hält inne. Die kleine Zielscheibe am Ende der Bahn kippt nach hinten. Treffer. Bis zu 30 Patronen pro Magazin fliegen während der Schießübung aus dem Gewehr. Bei jedem Knall fängt sich der Hall zwischen den hölzernen Schall-Schutzwänden, die wie Brücken über die Bahn ragen. „Die Übung ist beendet“, brüllt Röder. Das schallende Gewitter endet abrupt. Ihr Finger zuckt vom Abzug an den kleinen Kippschalter. Gesichert. Sie löst das Magazin, kontrolliert den Lauf des Gewehrs, steht auf. Die Anspannung weicht aus ihrem Gesicht. Sie lächelt. Heute Grundausbildung, Morgen Djibouti oder die Straße von Hormus: Noch ist es nur Training auf dem Schießplatz in Boostedt. Später vielleicht Djibouti oder die Straße von Hormus. Statt auf Zielscheiben muss sie im Ernstfall auf Menschen schießen. In einem Jahr könnte Matrosin Schade in einen Auslandseinsatz geschickt werden. Wär sie bereit dafür? „Definitiv. Ja.“ — Wo ist egal. Sie wirkt entschlossen. Antwortet kurz und knapp, so als sei sie den Satz schon mehrere Male im Kopf durchgegangen. „Das ist einer der Gründe, warum ich das mache. Ich lass mich auch nicht zu einem anderen Beruf ausbilden, und arbeite dann nicht in diesem.“ Nach Angaben der Bundeswehr starben von 1992 bis 2018 111 Soldaten und zivile Mitarbeiter der Bundeswehr im Ausland. Ob sie Angst oder Furcht vor dem Tod hat? Die Frage lässt Schade einige Sekunden im Raum stehen. Antwortet verhalten: „Man geht in eine Region, wo vieles Unvorhergesehenes passieren kann – davor habe ich einen gesunden Respekt.“ Über mögliche Szenarien nachzudenken, dafür haben die Rekruten während ihrer Grundausbildung kaum Zeit. Die Tage sind minutiös durchgetaktet. Mittagspause nach dem Schießen. In Reih und Glied stehen die Rekruten bereit. Die Sonne knallt auf ihre Camouflage-Uniform. Schatten bilden sich unter ihren Augen. Die Wangen sind rot. Die Anstrengungen hinterlassen erste Spuren. „Von vorne nach Achtern — Verpflegungsaufnahme“, befiehlt einer der vier Gruppenführer. Zeiten des Boden schrubben und Latrinen säubern sind vorbei: Der Ton ist rau bei der Bundeswehr. „Man muss sich daran gewöhnen“, sagt Schade. Der Rekrut ist das letzte Glied der Kette. Sie sagt, sie komme damit zurecht: „Es ist so, dass man für etwas gemaßregelt wird, was man verbockt hat. Und danach ist auch gut.“ Mehr zum Thema: So stärkt die Bundeswehr Ostholsteins Wirtschaft Einige sehen das jedoch anders. 15,6 Prozent der 7259 Wehrdienstleistenden haben laut Jahresbericht des Wehrbeauftragten Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) 2018 den Dienst quittiert. Während einige die Zeit der Grundausbildung als positive Erfahrung erlebt hätten, würden andere den rauen Umgangston, rüdes Benehmen und fehlende Fürsorge von Vorgesetzten beanstanden, heißt es dort. Immerhin gibt es 2,3 Prozent weniger Abbrecher als im Vorjahr. Doch weil insgesamt die Zahl der Bewerber sinkt, ist die Bundeswehr zum Umdenken gezwungen. 182 496aktive Soldaten umfasst die Bundeswehr insgesamt. Damit gehört sie zu den größten Arbeitgebern und Ausbildungsbetrieben in Deutschland. 7244Rekruten leisten aktuell den freiwilligen Wehrdienst. 3Monate dauert die Grundaus bildung. Danach setzt sich die Ausbildung je nach Zweig weiter fort. 2011wurde die allgemeine Wehrpflicht am 1. Juli ausgesetzt. 31,85 Jahre ist das Durchschnittsalter eines Soldaten bei der Bundeswehr. Das geht aus einer Kleinen Anfrage der FDP-Fraktion hervor. „Bei der Bundeswehr wurde die Personal-Trendwende bereits eingeleitet“, sagt Kapitänleutnant Timo Schild. Er ist verantwortlich für die Ausbildung der Marine-Infanterie-Anwärter vor Ort. Trotz Werbung auf Plakaten, in sozialen Medien und sogar auf der Computermesse Gamescom in Köln, wird der Nachwuchs weniger. „Wir befinden uns momentan in einem Spannungsfeld.“ Auf der einen Seite überlege man, wie Rekruten geschont würden, um ihnen die Bundeswehr so schmackhaft zu machen, dass sie bleiben. Auf der anderen Seite hätten sie eine Verpflichtung gegenüber den späteren Einheiten, dem Nachwuchs die nötige Ausbildung mitzugeben. Insgesamt sei der Umgang aber ziviler geworden. Böden schrubben oder Latrinen säubern — die stupiden Arbeiten, wie es sie früher einmal gab, werden kaum noch verlangt. Das G36 ist immer griffbereit – 24/7: Immer noch stehen die Rekruten stramm in der Reihe. Marschieren nacheinander zur Essenstation. „Zweiter Zug durch“, meldet der letzte Rekrut. „Mit ein bisschen mehr Motivation“, fordert ihn der Gruppenführer auf. „Jawohl, zweiter Zug durch“, sagt er mit nun kräftigerer Stimme. In der rechten Hand hält jeder seinen Pickpott — das metallische Feldessgeschirr. Vor-, Haupt-, und Nachspeise können dadurch mit einer Hand getragen werden. Beim Gehen klimpert das Geschirr wie die Dosen an einem Hochzeitsauto. Es gibt Gulasch mit Kartoffeln. Clara Schade kennt das. Gleiches gab es die Tage zuvor. „Das ist eigentlich ganz lecker.“ Nur mit dem Feldbesteck zu essen und zu trinken, findet sie gewöhnungsbedürftig. Sie holt sich ihre Ration, setzt sich in den Gemeinschaftsraum. Zwischen ihre Oberschenkel klemmt sie ihr G36. Penibel achtet sie darauf, dass der Mündungsfeuerdämpfer am Ende des Laufs nicht den Boden berührt, weil das Bauteil leicht verbiegen kann. Die Schulterstütze klappt sie zur Seite. Andere Rekruten hängen es über die Rückenlehne. Schade nicht. Zum Essen beugt sie sich über das Sturmgewehr. Ist es ein komisches Gefühl, das Gewehr stets bei sich zu führen? „Natürlich“, sagt Schade. „Aber es ist auch erstaunlich, wie normal sich das nach einiger Zeit anfühlt.“ Beim Essen, dem Gang zur Toilette oder nachts — das G36 ist immer in Griffweite. Es ist das, was Zugführer Röder den Rekruten tagtäglich einimpft: „Niemals. Ich betone: Niemals wird das Gewehr aus den Augen gelassen.“ Denn jederzeit könne der Ernstfall eintreten, und sei es in Form einer Übung. „Sitzen und Lernen: Das ist nichts für mich“: Ob Matrosin Schade all das — ihr G36 oder den Pickpott — gegen ein normales Leben als Angestellte oder Studentin eintauschen würde? „Studieren wär für mich deutlich härter, als hier mal zu marschieren oder zu Schießen.“ Den ganzen Tag Sitzen und Lernen — „das ist nichts für mich.“ Sie ballt die Hand zur Faust. Sie will es körperlich, muss an ihre Grenzen gehen und sich auspowern, sagt sie. Womöglich hat Claras Vater ihr den Gedanken in den Kopf gesetzt, zur Bundeswehr zu gehen. Er selbst war viele Jahre beim Bund. „Er hat immer von dieser guten Zeit erzählt.“ Aber als Mädchen zur Bundeswehr? Sie zögerte und begann nach der Schule vorerst eine schulische Ausbildung als Assistentin für Fremdsprachen und Korrespondenz: „Aber ich habe schnell gemerkt, dass das nichts für mich ist.“ Später gab sie sich einen Ruck. „Ich dachte mir: ‚Du wolltest schon immer zur Bundeswehr. Versuch es doch einfach’.“ Dumme Kommentare, weil sie als Frau zum Militär geht, bekommt sie nicht zu hören. Eher sind Bekannte und Freunde begeistert, weil sie merken, dass sie sich als Mensch positiv verändert habe. „Früher war ich unruhig. War nicht bei der Sache und innerlich nervös.“ Die Bundeswehr gebe ihr Sicherheit, Struktur und Ordnung. „Das tut mir auf jeden Fall gut. Ich bin zufriedener geworden.“ Keine ruhige Nacht für die Rekruten: Wenige Stunden später steht eine weitere Schießübung an. Es ist der letzte Tagesordnungspunkt: G-GL-3, Gewehr-Grundlagen-Schießübung Nummer drei — die sperrige Bezeichnung für das Nachtschießen. Langsam wird es dunkel. Im schummrigen Licht der Dämmerung verschmilzt der Camouflage-Stoff der Feldblusen mit der Umgebung. Die Rekruten sind kaum noch zu erkennen. Also wieder: „Zweiter Zug. Angetreten — in Formation“, sagt der Leitende des Schießens. Befehl… Aber der Gehorsam lässt auf sich warten. Die Rekruten sind müde, schlurfen zurück in Reih und Glied. Seit fünf Uhr morgens sind sie auf den Beinen. „Bahn eins bis fünf: Klar zum Gefecht?“ Die kleinen Zielscheiben, markiert durch ein rotes Licht, klappen hoch. Es herrscht absolute Stille, bis der erste Schuss knallt. Das G36-Gewitter kehrt zurück. Es dauert länger als geplant. Zu viele Rekruten schießen daneben. Bis in die Nacht hinein liegt das Donnern der Gewehre über der Schießbahn in Boostedt. Lesen Sie hier: So werden Marine-Soldaten seit 60 Jahren in Neustadt ausgebildet Erst nach Mitternacht marschieren Matrosin Schade und ihre 46 Kameraden zurück in den Wald zu ihren Biwaks. Anstatt in der Plöner Kasernen schlafen sie während der drei Übungstage in den Zwei-Mann-Feldzelten. „Aber auf eine ruhige Nacht brauchen sie nicht zu hoffen“, sagt Zugführer Röder. Die Rekruten werden Feuerwache schieben und sich stundenweise abwechseln. Ob die Truppe nachts ein Angriffsmanöver simulieren muss, lässt Röder offen. „Na ja, sie hoffen auf Schlaf. Aber die Hoffnung stirbt ja zuletzt.“ Clara Schade krabbelt in das beengte Biwak. Es ist kaum Platz sich aufzusetzen. Die Uniform und Stiefel zieht sie aus, bevor sie in den olivgrünen Schlafsack schlüpft. Das Sturmgewehr legt sie direkt neben sich auf die Isomatte. Wie ein Alltagsgegenstand ist es normal für sie geworden. Das G36 — ihr tagtäglicher Begleiter. Von Fabian Boerger

Grundausbildung bei der Bundeswehr - Eine Rekrutin und ihr G36: Warum junge Menschen zur Bundeswehr gehen