Corona Kommentar aus Lübeck: Lasst die Hamburger an die frische Luft!

Von wegen norddeutsche Gelassenheit. Der Ton an der Küste wird rauer. Von der großen Freiheit im Norden ist in Zeiten der Corona-Krise nicht viel geblieben. Es mutet mittlerweile eher an wie eine Zeitreise in die dunkle Vergangenheit. Kurz hinter Lübeck an der Grenze nach Mecklenburg-Vorpommern werden Einreise-Verbote in den Nordosten streng kontrolliert. Und Hamburg und Schleswig-Holstein schlittern aus dem selben Grund in eine echte Beziehungskrise. Ausgerechnet Christian von Boetticher wird zum Chefankläger gegen die Kieler Staatskanzlei. So richtig gute Freunde waren sie dem Vernehmen nach nie: Der gefallene Kronprinz der Union und der aktuelle CDU-Ministerpräsident Daniel Günther. Jetzt aber fährt von Boetticher wortgewaltig gegen Kiel auf: Als Landesvorsitzender des CDU-Wirtschaftsrates spricht er von einem Rückfall in die Zeit vor fast 200 Jahren, als es Zollgrenzen zwischen den Nordländern gab. Von Boetticher, schon immer eher in der Hamburger denn in der Nord-CDU zuhause, spricht aus, was viele an der Elbe denken. Man fühlt sich eingesperrt in der Metropole, wie aussätzig behandelt vom Nachbarn im Norden. Das einst gute Verhältnis steht auf der Kippe. Das LN Corona-Update als Newsletter Alle News zum Coronavirus in Lübeck dienstags bis samstags gegen 7 Uhr im E-Mail-Postfach Tatsächlich ist die Frage berechtigt, ob Kiel und Schwerin den föderalistischen Bogen überspannen. Seit Wochen hält sich die überwiegende Mehrheit der Menschen an Abstands- und Hygienegebote. Das ist in Hamburg nicht anders als in Schleswig-Holstein. Dass Schleswig-Holsteiner täglich zum Arbeiten in die Großstadt an der Elbe pendeln, umgekehrt aber Hamburgern am Wochenende kein Spaziergang in der Landschaft Schleswig-Holsteins zusteht, ist schwer zu vermitteln. Dem „echten Norden“ droht ein gewaltiger Imageschaden. Schlimm genug, dass Zweitwohnungsbesitzer zu Beginn der Krise bepöbelt wurden. Dafür kann man sich echt nur schämen. Das war provinzielles Verhalten aus Zeiten, als Tourismus noch als „Fremdenverkehr“ bezeichnet wurde. Zum eigenen Anspruch des Ferienlandes Schleswig-Holsteins passt so etwas überhaupt nicht. Die Nerven liegen blank: Dass aus Einreiseverboten und Radler-Kontrollen ein Zerwürfnis zwischen Landesregierungen entsteht, ist kein gutes Zeichen für den Umgang des politischen Spitzenpersonals. Wie blank die Nerven liegen, haben Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher und Daniel Günther erst vor kurzem bewiesen. Sie täten gut daran, den Streit am Gartenzaun zu befrieden und ihren Bürgerinnen und Bürgern zu erklären, wie und nach welchen Regeln sie sich schnellstmöglich wieder frei im Norden bewegen dürfen. Dass Tagestouristen als große Gefahr gelten und gleichzeitig am Sonntag in Timmendorfer Strand die Geschäfte öffnen – das dürfte nicht nur in Hamburg schwer vermittelbar sein. Von Gerald Goetsch

Leitartikel - Lasst die Hamburger an die frische Luft!