Corona in SH: So bewältigt eine 88-Jährige die Einsamkeit

Sie lebt in einem schmucklosen, etwas unpersönlichen Klinkerbau in Oldenburg/Holstein. Eine Wohnungstür sieht aus wie die andere – und hinter einer sitzt Elfriede Klemp (88) allein ihrem Wohnzimmer. „Kommen Sie herein“, sagt die alte Dame. „Nehmen Sie Platz.“ Socken stricken für andere: Auf ihrem kleinen Wohnzimmertisch liegt eine sauber gebügelte, gemusterte Decke, darauf ihr Strickzeug mit einer fast fertigen, gestreiften Socke, ein Buch und ein Kofferradio. Die drei Dinge, die ihr über den Tag helfen. „Das Radio brauche ich, damit ich informiert bin.“ Das Buch handele vom Schicksal einer Familie in Mecklenburg. „Und die selbst gestrickten Socken sind für Leute, die sie brauchen. Viele Ältere freuen sich über so etwas, jetzt wo es kälter ist.“ Familie wohnt weit weg: Sie lächelt. Vor sechs Jahren sei sie hier eingezogen, damals noch mit ihrem Mann, der inzwischen verstorben ist. „Wir haben keine gemeinsamen Kinder, aber der Sohn meines Mannes aus erster Ehe wohnte damals in Oldenburg. Er fragte, ob wir nicht aus Grimmen (Mecklenburg-Vorpommern) herziehen könnten, um uns um seine Kinder zu kümmern.“ Heute wohne der Sohn mit Familie in Mannheim. „Wir telefonieren regelmäßig.“ Aber sehen könne man sich eben kaum. Nachbarn meiden jetzt Kontakte: Auch die Nachbarn scheuten der Pandemie wegen derzeit den Kontakt. Sie schüttelt traurig den Kopf. „Man möchte sich manchmal sehen und sich die Hände schütteln.“ Doch es nütze nichts, man müsse vorsichtig sein. Ihr Senioren-Kreis bei der Arbeiterwohlfahrt (Awo) könne ebenfalls nicht mehr stattfinden. „Da haben wir uns früher Kuchen mitgebracht und geredet.“ Die Kurse im Seniorenzentrum, zu dem auch ihre Wohnung gehört, in der sie ohne jede Betreuung lebt, fallen aus. „Früher haben wir da gesungen, Handarbeiten und Sport gemacht oder Vorträge gehört. Aber wegen Corona geht das alles nicht mehr.“ Spaziergänge halten fit: Draußen hätten die Läden geschlossen, nicht mal der Friseur geöffnet. Auch das fehle ihr. Gott sei Dank gebe es keine Versorgungsengpässe, in den Läden könne man alles kaufen, selbst Wolle zum Stricken habe der Netto-Markt um die Ecke. Oft gehe sie spazieren, wenn es das Wetter zulasse. „Einmal um die Stadt herum. Das dauert etwas mehr als eine Stunde.“ Viele Menschen seien meist nicht draußen unterwegs. Für sie aber sei die Aktivität wichtig. „Ich muss mich beschäftigen, um von dem Gedanken loszukommen, dass ich alleine bin.“ Fester Tagesablauf: Um den Tag zu bewältigen und die Einsamkeit nicht zu sehr zu spüren, halte sie sich an einen festen Tagesablauf. „Morgens stehe ich um fünf Uhr auf, dusche und mache mir Frühstück.“ Dann koche sie sich eine Tasse Kaffee, zünde eine Kerze an und stelle die beiden Engel, die sonst auf ihrer Kommode stehen, auf den Esstisch. „Die leisten mir dann Gesellschaft.“ Um sechs Uhr höre sie die Nachrichten im Radio. Dann gehe sie Spazieren oder Einkaufen. „Ich putze die Wohnung, die Fenster, mache Wäsche.“ Aufregendes Fernsehen: Um 11.30 Uhr mache sie Mittagessen. „Viel Gemüse und Salat, wenig Fleisch.“ So bleibe sie gesund. Nachmittags koche sie sich noch eine Tasse Tee. Zu Abend esse sie nicht. „Ich sitze den ganzen Tag so viel, da brauche ich nichts mehr.“ Um 17 Uhr schalte sie den Fernseher ein. „Bis 19 Uhr etwa gucke ich, was in der Welt los ist. Gerne auch Tiergeschichten.“ Um 20.30 Uhr liege sie meist schon im Bett. „Oft lese ich dann noch. Aber das Buch, das ich jetzt habe, ist zu traurig. Da kann ich nachher nicht schlafen.“ Die Mutter in der Geschichte habe einen Autounfall gehabt, verrät sie, und jetzt seien die beiden Jungs alleine. „Ich vermeide so aufregende Sachen, auch im Fernsehen.“ Lesen Sie auch Corona in Schleswig-Holstein und Lübeck: Aktuelle Zahlen am 19.01.2021 Corona-Impfung Lübeck: Senioren über 80 sind wütend über Terminvergabe Grömitz: 46 Corona-Fälle in der Alloheim Senioren-Residenz Auch die Politik rege sie oft auf. „Da treffen sich die Ministerpräsidenten und beschließen etwas und hinterher macht es doch jeder, wie er will.“ Das finde sie nicht gut. Ebenso wenig wie die unvernünftigen Leute, die angesichts von ein bisschen Schnee gleich in die Wintersportorte aufbrächen. „Man muss sich doch an die Maßnahmen halten. Nur dann kann es wieder normal werden.“ Beten hilft: Sie sei froh, dass sie noch lebe, sagt sie. Dafür danke sie Gott jeden Abend. Dabei gehe sie nie in die Kirche und sei auch sonst nicht religiös. Davon sei sie als Kind bei der Flucht aus Ostpreußen abgekommen. „Wir waren die Ärmsten der Armen, hatten nur Schnee zu essen. Und trotzdem wurden die Menschen noch erschossen.“ Sie habe Fliegerangriffe erlebt und in einer Mulde, in der die Menschen Schutz suchten, viele blutige Tote gesehen. „Ich dachte: Wenn es wirklich einen Gott gibt, warum lässt er das zu?“ Sie sei noch ein Kind gewesen. Immer noch denke sie viel darüber nach. Sie schweigt kurz. „Wenn man älter wird, hat man das Bedürfnis zu beten.“ Es in der Stille der Wohnung auszuhalten, das sei manchmal sehr schwer. Aber aufgeben komme für sie nicht in Frage. Auch Corona werde vorübergehen, hofft sie. „Und das möchte ich so gerne noch erleben.“ Von Marcus Stöcklin