Corona- und Impf-Regeln in SH: Viele blicken nicht mehr durch

Bei der Anmeldung für den Impftermin per Telefon die PIN nicht vergessen. Termine für über 80-Jährige vormittags nur mit Astrazeneca. In den Schulen Präsenzunterricht für die Klassen 1 bis 6 in Lübeck, im Herzogtum Lauenburg nur Wechselunterricht. Und wo genau musste man in Lübeck eigentlich noch mal Maske tragen? Die Corona-Pandemie hat dem durchregulierten Land gleich noch eine Regelungsflut beschert. Viele Bürger klagen, sie hätten den Durchblick längst verloren. Die Hotlines glühen, die LN erreichen zahlreiche Mails ratloser Senioren, und auch bei der Bürgerbeauftragten des Landes, Samiah El Samadoni, laufen immer mehr Beschwerden ein. „Wer kein Netzwerk um sich hat, kommt nicht zurecht“: „Es fallen alle hintenüber, die mit dem Internet nicht vertraut sind, alle, die mit komplexen Dingen überfordert sind, und alle Menschen mit sprachlichen Barrieren“, sagt Samiah El Samadoni. Wer dann auch kein Netzwerk um sich habe, das hilft – Nachbarn, Kinder und Enkel oder Freunde etwa – komme mit den Regeln und Verfahren nicht zurecht. Beispiel Impf-Anmeldung: Seit dem 9. März dürfen sich auch Personen der „Prioritätsgruppe 2“ für einen Termin anmelden – allerdings nur online. Darunter fallen aber auch alle 70- bis 79-Jährigen, so geht es aus der jüngsten Pressemitteilung des Kieler Gesundheitsministeriums hervor. Dazu kommen etwa Polizisten – aber nur, wenn sie im Dienst einem besonders hohen Corona-Risiko ausgesetzt sind. Und Lehrer – aber zunächst nur Grund- und Förderschullehrer im Präsenzunterricht. Und schwer Vorerkrankte, Krebspatienten etwa – allerdings nur, wenn sie akut in Behandlung sind. Anderenfalls gehören sie zur Prioritätsgruppe 3. Längst nicht alle sind digital angebunden: „Das ist für viele Menschen kaum verständlich“, sagt Samiah El Samadoni. Die Priorisierung mag gut und richtig sein. Wenn man alle Personen per Brief angeschrieben hätte, wäre sie einfacher umzusetzen gewesen. Bei den über 80-Jährigen etwa hätte die Flut von Beschwerden nachgelassen, als die Landesregierung das Anmeldeverfahren vom Internet auf briefliche Einladung umstellte. „Die Digitalität ist, wenn man ehrlich ist, schon bei den Menschen ab 60 das größte Problem.“ Lesen Sie auch: „Die wirklich wahren Corona-Regeln“ – LN-Glosse von Hanno Kabel „Trotzdem wählt man jetzt dasselbe digitale Online-Verfahren auch für die 70- bis 79-Jährigen wieder“, klagt auch Sönke Lintzen, Sprecher des Sozialverbands Deutschland (SoVD) – und berichtet zugleich, dass selbst das Anmeldeverfahren nach brieflicher Aufforderung für viele Bürger eine Hürde darstellen kann. Die Senioren über 80 sollen sich dabei mit einer im Brief angegebenen Pin telefonisch anmelden. „Uns erreichten viele Fragen: Was ist denn eine Pin?“ Und die Frage: „Ist das Schreiben wirklich vom Staat?“ „Warum wurden die Verbände nicht eingebunden?“: Schließlich schärfe man den alten Menschen doch an anderer Stelle ständig ein, am Telefon ja keine persönlichen Angaben weiterzugeben, um nicht auf Trickbetrüger reinzufallen, sagt Lintzen. Für ihn sei es daher völlig unverständlich, dass Vereine und Verbände wie sein SoVD vom Ministerium nicht in die Vorbereitung der Kampagnen einbezogen worden sei. „Wir hätten viele Rückmeldungen unserer 160 000 Mitglieder im Land einbringen und umgekehrt Ängste nehmen können.“ Vielleicht, so seine Hoffnung, besinne sich die Politik im Land darauf ja noch. Ministerium rät den Bürger, sich gegenseitig zu helfen: Das Kieler Gesundheitsministerium rät auf LN-Anfrage vorerst nur: „Auch bei der Terminvergabe ist es wichtig, dass sich Bürgerinnen und Bürger gegenseitig helfen, dass Angehörige dort unterstützen, wo es Hilfe bedarf und dass man sich gegenseitig Tipps und Informationen weitergibt.“ Und die zentrale Impf- und Informationskampagne steuere und verantworte ohnehin das Bundesgesundheitsministerium. Beispiel Kinder: Schulen und Kitas öffnen nur schrittweise wieder. So hat die Landesregierung Ende Februar beschlossen, die Klassen 1 bis 4 wieder im Präsenzunterricht beschulen zu lassen. In Kreisen und kreisfreien Städten, in denen die Coronazahlen bestimmte Werte überschritten, gab es aber Sonderregelungen. So auch in Lübeck. Nun sinken die Zahlen. Und deshalb gehen hier jetzt die Klassen 1 bis 6 in den Präsenzunterricht, die Klassen 7 bis 13 in den Wechselunterricht. Andersherum geht es im Kreis Segeberg. Wegen steigender Coronazahlen bleiben dort die Klassen 7 bis 13 zu Hause. Die Klassen 1 bis 6 wechseln in den Wechselunterricht. Anders in Stormarn: Dort steigen die Coronazahlen ebenfalls an. Dennoch bleiben die Klassen 1 bis 6 im Präsenzunterricht, die Klassen 7 bis 13 wechseln in den Wechselunterricht. In diesem bleiben die Klassen 1 bis 6 nun im Kreis Herzogtum Lauenburg, die Siebt- bis 13-Klässler bleiben zu Hause. Überforderte Eltern schicken Kinder trotz Quarantäne zur Schule: Auch die Kitas sind dort nur wieder eingeschränkt nutzbar. So dürfen sie nur Kinder von Alleinerziehenden betreuen. Und auch von zwei zusammenlebenden Eltern – dann aber nur, wenn die in den „kritischen Infrastrukturen“ arbeiten. Welche das sind, müssen Eltern im Zweifel im Internet nachlesen – wenn sie einen Zugang haben. Samadoni hörte von Fällen, in denen Eltern ihre Kinder in Kita und Schule brachten, obwohl die Familie unter Quarantäne stand. Sie blickten einfach nicht mehr durch den Vorschriftenwust hindurch, verstanden die Papiere nicht und hatten Angst, sonst gegen ein Gebot zu verstoßen, von dem man ihnen eingebläut hatte, bloß nicht dagegen zu verstoßen: die Schulpflicht. Beispiel Einkaufen: Nicht viel durchsichtiger sind die Regelungen zur Öffnung des Einzelhandels. In Hamburg etwa dürfen die Geschäfte Kunden erst nach einer Voranmeldung im Internet oder per Telefon und dann zu einem verabredeten Termin aufsuchen. In Schleswig-Holstein soll das auch gelten – wenn die Inzidenz über 50 steigt, aber unter 100 bleibt. Wenn sie in einem Kreis über 100 steigt, können Geschäfte zumindest dort aber auch wieder ganz geschlossen werden. Wo gilt eigentlich überall die Einkaufs-Maskenpflicht? In Innenstädten wie der Lübecker gilt beim Einkaufen auch auf der Straße eine Maskenpflicht. In anderen nicht. Wo sie beginnt, wann sie beginnt? Steht im Internet oder in der Zeitung. In den Straßen hängen nur vereinzelt mehr oder weniger gut sichtbare Schilder, die jedoch nichts über die Uhrzeiten verraten. Beispiel Reisen und Ausflüge: Auf gar keinen Fall sollte man bei der Einkaufstour die Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern überschreiten. Auch zum Spazieren gehen oder Freunde besuchen nicht. Das östliche Nachbarland hat ein striktes Einreiseverbot erlassen. Wer dagegen verstößt und erwischt wird – und sei es, dass sein Auto aufgeschrieben wird – bekommt einen Bußgeldbescheid. Stadtpräsident beklagt uneinheitliche Coronaregeln: Nachzulesen sind auch diese Regeln unter anderem auf den Internet-Seiten jenes Landes. Auch Lübecks CDU-Stadtpräsident Klaus Puschaddel ist genervt. Er habe viel Verständnis dafür, wenn viele Bürger durch das Regelwirrwarr nicht mehr durchblickten, erklärte er schon vor Wochen gegenüber den LN. Die Corona-Regeln müssten möglichst einheitlich sein, mindestens von Land zu Land, und dann auch vernünftig kommuniziert werden. Ansonsten sorge man in der Bevölkerung für einen Vertrauensverlust in den Staat. „Ich nehme da bei vielen Menschen schon eine ganze Menge Verdruss wahr“, sagt Puschaddel. Im Gesundheitsministerium betont man, es sei wegen der dynamischen Infektionslage sinnvoll, innerhalb der Länder und zwischen den Ländern zu differenzieren. Schleswig-Holstein habe im Bund aber immer dafür geworben, bundesweit einheitliche Kriterien für Maßnahmen festzulegen. Für Samadoni steht fest: Viele Menschen im Land müssten verständlicher und in einfacherer Sprache über die Corona-Maßnahmen informiert werden. „Alle Angebote müssen so niederschwellig wie möglich sein“, sagt die Bürgerbeauftragte. Das heiße zunächst einmal: Es müsse für sie auch analoge Zugänge geben, übers Telefon etwa statt nur übers Internet. Sozial-Experten fordern: Hausärzte in die Kampagne einbinden: Dann müssten sich Politik und Verwaltung auch fragen, wo die Anbindungspunkte sind, in denen man auch jene Menschen erreicht, die sich nicht täglich über Medien und Internet informierten. In Sachen Impfung hieße das zum Beispiel: „Das Beste wäre, über die Hausärzte zu impfen.“ Denn eine solche ärztliche Anlaufstelle hätten die meisten Menschen heutzutage immer noch. Und auch die Schulen müssten besser in Info-Kampagnen eingebunden werden. Auf die Hausärzte setzt auch Sönke Lintzen vom Sozialverband. Denn mit der Impftermin-Vergabe hörten die Schwierigkeiten ja nicht auf. Die Menschen müssten vor dem Termin noch viele Seiten Papier lesen, verstehen, ausfüllen und unterschreiben. Das Vorzeigen der Gesundheitskarte reiche ja ausgerechnet diesmal nicht aus. Lintzen: Es gedeiht vor allem die Bürokratie: Während andere Länder vormachten, wie schnell und einfach man gegen Corona impfen kann, gedeihe in Deutschland vor allem die Bürokratie, sagt Lintzen. Im Kieler Gesundheitsministerium macht man dafür den Grundsatz der Impfgerechtigkeit angesichts viel zu knapper Impfdosen-Lieferungen verantwortlich. Aufgrund „der verfügbaren Impfstoffmengen“ müsse „ein striktes und risikobasiertes Priorisierungskonzept erfolgen“, sagt Ministeriumssprecher Marius Livschütz. Und da müsse die „Berechtigung zur prioritären Impfung nachvollziehbar dokumentiert werden“. Dafür reiche die Gesundheitskarte nicht aus. Samadoni fordert mobile Impfteams für Problem-Viertel: Auch wegen dieser Bürokratie hätten sich sicher längst nicht alle impfen lassen, denen eine Impfung zugestanden hätte, sagt Lintzen. Samadoni fordert, Obdachlosen- und Asylbewerberunterkünfte von mobilen Impfteams ansteuern zu lassen – wenn denn endlich mal genügend Impfstoff zur Verfügung stehe. Lesen Sie auch Impfstart Prio 2 in Schleswig-Holstein: 860000 Berechtigte, 200000 Dosen Impfungen in Praxen: So bereiten sich Hausärzte in SH vor Schleswig-Holstein: Computerprobleme bremsten Astrazeneca-Impfungen aus Verbot von Tagestourismus: Druck auf Mecklenburg-Vorpommern wächst Geschäfte wieder offen: So lief der erste Einkaufstag in Lübeck Corona: In Stormarn und Segeberg drohen wieder Schulschließungen Diese Teams sollten auch Stadtteile mit sozialen Problemen oder einem hohen Migrantenanteil ansteuern. Dort auf der Straße und in ihren Vereinen könnten die Menschen am besten erreicht und am Ende dann auch geimpft werden. Das Gesundheitsministerium setzt vor allem aufs Internet: Auch dafür stehen die Chancen absehbar schlecht. „Die mobilen Impfteams sind aktuell noch damit ausgelastet, in stationären und teilstationären Einrichtungen zu impfen“, sagt Ministeriumssprecher Livschütz. Viele Informationen zu Regeln und Impfung stelle man zudem bereits in leichter Sprache und auch in Gebärdensprache zur Verfügung. Diese seien frei abrufbar und könnten jederzeit zur Nutzung oder Verteilung heruntergeladen werden – aus dem Internet. Von Wolfram Hammer