Darum sind die Zahlen der Corona-Infektionen in Lübeck und der Region so unterschiedlich

Noch nie haben so viele Menschen sich für Statistiken interessiert. Die neuesten Zahlen und Entwicklungen der Corona-Infektionen in der eigenen Stadt oder im Kreis gehören in diesen Wochen für viele Menschen jeden Tag zu den wichtigsten Nachrichten. Der Vorteil einer Statistikkurve ist unübertroffen: Auf einen Blick und in wenigen Sekunden kann jeder erfassen, wie hoch die Zahl der Infizierten ist und wie sie sich im Vergleich zu anderen Regionen entwickelt. Doch was häufig auf den ersten Blick ganz eindeutig erscheint, erweist sich bei ganz genauem Hinsehen manchmal als ganz anders. Denn Statistiken sind zu gleich voller Irrpfade, die den Betrachter zu falschen Schlüssen locken. Die LN haben deshalb die Infiziertenzahlen aus der Region einmal genauer unter die Lupe genommen. Wie groß sind die Unterschiede zwischen den Kreisen und Städten wirklich? Die Zahl der bestätigten Corona-Fälle in der Region weisen teils drastische Unterschiede auf. Der Kreis Stormarn ist mit 336 festgestellten Infektionen besonders betroffen (Stand 21. April), gefolgt vom Herzogtum Lauenburg (236 Fälle), dem Kreis Segeberg (208 Fälle), Lübeck (154 Fälle) und schließlich Ostholstein (59 Fälle). Um zu vergleichen, ob sich das Virus in einem Kreis besonders schnell ausbreitet, sich die Menschen besser oder schlechter an die Regeln halten, taugen diese Zahlen aber noch nicht. Denn es gibt zwei Fallstricke: Zum einen die Zahl der Einwohner, zum anderen das Datum des ersten Falles. Logisch, ein Kreis mit mehr Einwohnern wird auch statistisch gesehen mehr Corona-Patienten haben. Und in einem Gebiet, in dem schon früh die ersten Fälle aufgetreten sind, ist die Ausbreitung der Pandemie schon weiter fortgeschritten als in anderen Regionen. Zahl der Infektionen pro 100 000 Einwohner wichtig: Um die Entwicklung in den Kreisen und Städten wirklich vergleichen zu können, muss also die Zahl der Infektionen pro 100 000 Einwohner, die sogenannte Inzidenz, genommen werden und der Tag eins gleichgesetzt werden. Das heißt: Wie hoch war die Zahl der Infektionen in einem Kreis pro 100 000 Einwohner jeweils am 36 Tag nach dem Auftauchen des ersten Falles, denn 36 Tage haben mittlerweile alle Regionen erreicht. Derart angepasst wird die Schere zwischen den einzelnen Regionen noch deutlicher. Die rasanteste Ausbreitung an Corona- Infektionen ist in den Kreisen Stormarn (Zahl der Infizierten am 36. Tag pro 100 000 Einwohner: 134) und Herzogtum Lauenburg (108,5) zu beobachten. Dann folgen die Hansestadt Lübeck (67,2) und der Kreis Segeberg (66,7 Infizierte), die beide knapp unter dem Landesschnitt von 78,5 Infizierten pro 100 000 Einwohner liegen. Deutlich langsamer verläuft die Ausbreitung in Ostholstein (29,4 Infizierte pro 100 000 Einwohner am 36. Tag nach dem ersten Fall). Das LN Corona-Update als Newsletter Alle News zum Coronavirus in Lübeck dienstags bis samstags gegen 7 Uhr im E-Mail-Postfach Warum sind die Zahlen in Ostholstein so niedrig? Dass das Virus selbst keine geografischen Grenzen kennt und sich unter gleichen Rahmenbedingungen auch gleich schnell ausbreitet, müssen die Gründe bei den Menschen und ihrem Verhalten liegen. Kulturelle und natürlich Ursachen kämen nur bei weiter entfernten Regionen infrage. Ein Beispiel dafür sind Regionen in denen Karneval gefeiert wurde und in denen kein Karneval gefeiert wurde – und daher größere feiernde Menschenansammlungen seltener waren. Das Verhalten der Menschen rund um Lübeck dürfte hingegen relativ gleich sein. Der Unterschied zwischen den Regionen liegt in der Zeitspanne, in der Geographie und in der Bevölkerungsdichte. Weniger Menschen in Ballungszentren: Bestes Beispiel ist Ostholstein. Der Kreis ist mit 144 Einwohnern pro Quadratkilometer eher ländlich geprägt und hat nur eine vergleichsweise geringe Bevölkerungsdichte, wenn wie jetzt keine Touristen da sind. Ein Kreis wie Stormarn ist mit 317 Menschen pro Quadratkilometer viel dichter besiedelt. Das heißt: In Ostholstein kann man sich besser aus dem Weg gehen und hat weniger Menschen in Ballungszentren. Noch viel wichtiger: Der erste Fall eines Corona-Infizierten wurden im Süden Segebergs, in Henstedt-Ulzburg, am 28. Februar bestätigt. Erst dann wanderte die Ausbreitung gen Norden, sodass der erste Fall im Kreis Ostholstein erst am 10. März auftauchte. Das bedeutet: Die deutschlandweiten Kontaktverbote sind in Ostholstein zu einem viel früheren Zeitpunkt der Ausbreitung in Kraft getreten, als in anderen Regionen, wo das Virus mehr Zeit hatte sich auszubreiten. So erklären sich die geringen Zahlen für den Kreis an der Ostsee. Warum sind die Infiziertenzahlen in Stormarn und dem Herzogtum Lauenburg so hoch? Genauso lassen sich die hohen Zahlen für Stormarn und das Herzogtum Lauenburg erklären. Es sind die beiden Kreise, die die längsten direkten Grenzen zur Hansestadt Hamburg haben. Hier gibt es viel Austausch zwischen den Kreisen und der Millionenstadt durch Berufspendler, Ausflüge zum Einkaufen oder Besuche von Freunden. Und Hamburg gehört zu den Epizentren der Pandemie-Ausbreitung, was auch wieder eine eindeutige Ursache hat. In Hamburg begannen die Frühjahrsferien bereits am 4. März und viele Menschen waren noch zum Skilaufen in Risikogebieten wie Südtirol. So kommt es sowohl im Lauenburgischen als auch in Stormarn bereits Anfang März und damit relativ früh vor dem Greifen der ersten Kontaktverbote und der Schließung der Schulen und Kitas am 16. März zu den ersten bestätigten Covid-19-Fällen. In Stormarn kam zudem noch die tragische Infektionskette im Seniorenheim in Rümpel hinzu, bei der 72 Mitarbeiter und Bewohner infiziert wurden. Warum entwickeln sich die Zahlen in Lübeck und Segeberg besser als erwartet? Im Kreis Segeberg und der Hansestadt Lübeck entwickeln sich die Corona-Infektionen fast genau gleich, und dass sogar knapp unter dem Landesdurchschnitt. Das sind überraschend positive Entwicklungen, denn Segeberg hat eigentlich ebenfalls eine große Nähe zu Hamburg und zudem mit dem ersten Covid-Patienten Schleswig-Holsteins am 28. Februar den frühesten Ausbruch. In Lübeck gab es ebenfalls bereits früh einen ersten Fall, nämlich nur einen Tag später. Zudem ist die Bevölkerungsdichte in der Stadt viel höher als auf dem Land. Warum läuft die Virusausbreitung aber dennoch etwas langsamer ab? Lübeck schneidet zum Beispiel deutlich besser ab als Kiel. „Am Anfang waren beide Städte gleichauf“, sagt Prof. Helmut Fickenscher vom Institut für Infektionsmedizin der Uni Kiel, „jetzt gehen die Zahlen doch ganz schön auseinander, obwohl mir in Kiel kein besonderes Ereignis bekannt ist, das das begründet.“ 83,6 Infizierte pro 100 000 Einwohner hatte Kiel am 36 Tag nach dem ersten Fall, in Lübeck waren es nur 67,2. Erfolgreiche Nachverfolgung kann entscheidend sein: Die Gründe für die guten Zahlen können vielfältig sein. Der Kreis Segeberg hat mit 205 Einwohnern pro Quadratkilometer eine deutlich geringere Bevölkerungsdichte als beispielsweise Stormarn. Zum anderen gab es bisher keinerlei Ausbruch von Covid-19 in einer Klinik, Pflegeheim oder Flüchtlingsunterkunft, was sonst schlagartig zu einem starken Anstieg der Fälle führen kann. Da spielt also einfach auch das Glück eine Rolle. „Ansonsten ist es nach wie vor ganz entscheidend, jede bekannte Infektionskette so schnell wie möglich durch angeordnete Quarantänemaßnahmen zu unterbrechen. Der Kreis Segeberg war von Anfang an personell relativ gut aufgestellt im Infektionsschutz, weswegen bei neu festgestellten Fällen sehr zeitnah reagiert werden konnte – und natürlich auch immer noch kann. Aus ursprünglich 15 Mitarbeitern sind mittlerweile 40 geworden“, sagt Kreissprecherin Sabrina Müller. Der Kreis Stormarn startete mit „nur“ sieben Mitarbeitern vor Corona, dafür sind es heute aber sogar gleich 55 Beschäftigte im Infektionsschutz. Die guten Zahlen Segebergs könnten also einfach auch auf Glück und zufällige, natürliche Schwankungen zurückzuführen sein. Erfolgreiche Nachverfolgung der Infektionsketten in Lübeck: Ähnlich verhält es sich in Lübeck. Dort führt man die „niedrigen und stabilen Infektionszahlen“ auf eine sehr erfolgreiche Nachverfolgung der Infektionsketten zurück. „Wir haben sehr früh und sehr konsequent Kontaktermittlungen durchgeführt. Zudem haben wir breit Informationen über Service-Telefon und Internet zur Verfügung gestellt. Die Zusammenarbeit mit den Kliniken, der Kassenärztlichen Vereinigung und den Laboren läuft niedrigschwellig, auch in Bezug auf Labortests“, sagt der stellvertretende Pressesprecher Hansjörg Wittern. Hinzu kommt, dass mit rund 55 Mitarbeitern im Infektionsschutz fünf Mitarbeiter auf 20 000 Einwohner kommen, ein im Vergleich eher hoher Wert. Dass die Erfolgsquote der Gesundheitsämter bei der Nachverfolgung von Infektionsketten die Statistik positiv beeinflussen kann, steht für den Virologen Fickenscher außer Frage: „Das kann eine Ursache sein.“ Eine gute Nachverfolgung eröffne auch gute Chancen. 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