„Dass ich noch lebe“ – der Untergang der „Gustloff“

Edith Kuschnereit sitzt auf dem Sofa in ihrem Altenheim-Zimmer in Mölln. Es ist warm und trocken hier, gemütlich. Vor der weißhaarigen Dame auf dem Tisch liegt ein Buch über die „Wilhelm Gustloff“. Das Schiff sank vor 75 Jahren in der eiskalten Ostsee. Edith Kuschnereit war an Bord – sie überlebte. Mit ihren Brüdern. Der Traum von einer Seereise: Dabei war die „Wilhelm Gustloff“ ein so schönes Schiff gewesen. Edith Königsmann, wie sie damals hieß, wollte so gerne einmal darauf fahren. Es lag in Gotenhafen, ihrer Heimatstadt. „Eine Freundin meiner Mutter war mit einem Offizier auf dem Schiff verheiratet. Es waren Matrosen darauf, die zu U-Bootfahrern ausgebildet werden sollten. Aber es fanden auch Theatervorführungen an Bord statt. Wir waren oft eingeladen.“ Natürlich war auch Krieg. Es gab Bombenangriffe, erinnert sich Edith Kuschnereit. Aber die Metzgerei ihrer Eltern war bisher unversehrt geblieben. „Wir hatten immer genug zu essen.“ Und zur Schule musste sie auch nicht, weil ihr Stiefvater, der das Geschäft betrieb, als Soldat eingezogen war. „Ich war freigestellt, um meiner Mutter zu helfen.“ Das Schiff läuft aus: Schließlich, Ende Januar, hieß es: Das Schiff läuft aus. „Ich wollte unbedingt mit. Wie hab’ ich für dieses Schiff geschwärmt.“ Und sie durfte. Bedingung: Ihre kleinen Brüder Heinz und Bruno, die zehnjährigen Zwillinge, musste sie mitnehmen. Die Mutter blieb zurück. „Schweren Herzens. Wir wollten uns in Thüringen wiedertreffen." Freudig sei sie an Bord gegangen, berichtet die Seniorin. „Ich habe nie daran gedacht, dass ich fliehe. Für mich war es die ersehnte Schiffsreise.“ Allerdings war es recht voll. Immer mehr Menschen strömten an Bord. „In einem großen Saal lagen Matratzen.“ Dort sollte sie mit ihren Brüdern schlafen. Einige der Passagiere kannte sie, ihre Freundin Leni von Allwörden war auch mit dabei. Beide schlossen schnell Freundschaft mit einigen jungen Matrosen. „Als ich mich morgens waschen wollte, zeigten sie mir eine Innenkabine. Die war noch frei.“ Fast ein Wunder, denn das Schiff ist mit über 10 000 Menschen, größtenteils Flüchtlinge aus dem Osten, schließlich hoffnungslos überfüllt. Krimi auf dem Sofa: Gegen Mittag legt es ab. Es war der 30. Januar 1945. „Abends krochen Heinz und Bruno in die beiden Kojen, ich nahm das Sofa.“ Ihre Lektüre: Ein Krimi. Ständige Durchsagen stören das Lesevergnügen. „Wir sollten unsere Kleider, Schuhe und die Schwimmwesten anbehalten.“ Doch die Schuhe sind längst ausgezogen, die Westen auch. Es ist etwa 21 Uhr, als Edith aufschreckt. Ein schwerer Schlag hat das Schiff erschüttert, zwei weitere folgen. „Das Schiff legte sich sofort schräg, das Licht ging aus und die Notbeleuchtung an.“ Noch auf Strümpfen holt sie ihre Brüder aus der Koje und will aus der Kabine heraus. „Auf dem Gang stand schon Wasser. Da fiel mir ein, dass ich noch die Schwimmwesten holen musste.“ Schon ist das Wasser so hoch, dass die Jungen schwimmen müssen, der Treppe zu. Eine Treppe tiefer liegt der eigentliche Ausgang. „Da versuchten die Leute hinzukommen. Aber mir war klar: Du kommst nur nach oben raus.“ Oben ist eine verschlossene Tür. „Als wir dort angelangt waren, ging sie plötzlich auf.“ Die „Wilhelm Gustloff“ war nach einem nationalsozialistischen Märtyrer benannt und wurde als Vergnügungsdampfer der NS-Organisation „Kraft durch Freude“ genutzt. Nach Kriegsbeginn 1939 wurde er als Lazarettschiff der Kriegsmarine übergeben und als Verwundetentransporter eingesetzt. Ab 1940 lag der Dampfer in Gotenhafen fest und diente als Wohnschiff für eine U-Boot-Lehrdivision. Am 30.Januar 1945 legte die „Gustloff“ ab, mit weit über 10 000 Menschen an Bord, die meisten ostpreußische Flüchtlinge, aber auch rund 2500 Soldaten. Laut Kriegsvölkerrecht hatte sie damit den Status eines Kriegsschiffs. Ein sowjetisches U-Boot sichtete die hell erleuchtete „Gustloff“ und versenkte sie, drei Torpedos schlugen ein. Auf der Höhe von Stolpmünde sank sie, etwa eine Stunde nach den Treffern, gegen 22:15 Uhr. Mehrere Schiffe versuchten zu helfen. Nur 1250 Personen konnten gerettet werden, einige starben später an den Folgen des Unglücks. Das Wrack liegt in polnischen Hoheitsgewässern und gilt als Seekriegsgrab. Die Versenkung des Schiffes voller Flüchtlinge gilt als größte und verlustreichste Schiffskatastrophe der Menschheitsgeschichte. Dasselbe U-Boot, das die „Gustloff“ versenkte, versenkte am 9. Februar 1945 auch die „Steuben“ mit etwa 4000 Menschen an Bord. Gedränge vor den Rettungsbooten: An Deck stehen Soldaten mit langen Mänteln. „Plötzlich sagte jemand: ,Halten Sie mal“, und legte mir ein Baby in den Arm.“ Es ist ein Geschiebe und Gedränge, alle wollen zu den Rettungsbooten. „Wir wurden mitgeschoben.“ Vor den Booten stehen Matrosen. „Die haben uns da reingeworfen. Erst Heinz, dann mich.“ Doch Bruno steht noch unten. „Da hab ich geschrien: Mein Jung, mein Jung! Erst wollten sie mich wieder rauswerfen, aber dann ist Bruno doch noch dazugekommen und das Boot wurde losgemacht. Es plumpste ins Wasser.“ Nicht immer ging das gut. „Eins kenterte und alle fielen heraus.“ Menschen schwimmen in den eiskalten Wellen, schreien und flehen. Einige klammern sich an die Bordwand. „Denen haben die anderen auf die Finger gehauen. Sonst wären wir alle untergegangen.“ Das Baby hat die Fünfzehnjährige die ganze Zeit auf dem Schoss. „Stellen Sie sich vor, es hat keinen Piep gesagt. Heute frage ich mich, ob es schon tot war.“ Edith Kuschnereit beginnt zu weinen. „Entschuldigung.“ Jemand habe noch eine Jacke über sie und das Kind gelegt. „Eine Frau saß auf dem Bordrand, die rief in einem fort: ,Mein Gott, mein Gott!’“ Später sieht sie, wie die „Gustloff“ sich auf die Seite neigt. „Sie lag schräg im Wasser und sank. Menschen hingen aus den Bullaugen, die steckten mit der Hüfte fest. So sind sie untergegangen.“ Entsetzt hält die 90-Jährige inne. „Das Schreien.“ Sie hält die Hände vor das Gesicht und schluchzt. Aufnahme durch ein Torpedoboot: Ein Torpedoboot nimmt die Schiffbrüchigen schließlich auf. „Immer wenn das Boot auf einer Welle gleich hoch mit der Bordwand war, haben sie einen von uns raufgezogen.“ Das Baby wird ihr abgenommen. „Sie sagten, Sie hätten seine Mutter gefunden. Aber das glaube ich nicht.“ In Kolberg gehen Edith und ihre Brüder an Land. Sie bekommt endlich neue Schuhe, Größe 39. „Ich hatte 36. Aber die Füße waren so geschwollen, dass ich sie kaum anbekam.“ Und sie schickt ein Telegramm an ihre Mutter. „Das bekam sie erst nach einer Woche. So lange ist sie jeden Tag in die Schulen und Gebäude gegangen, in denen die vom Unglück angeschwemmten Leichen aufgebahrt wurden und hat nach uns gesucht.“ Per Zug geht die Flucht weiter, über Berlin und Leipzig. Später gibt es ein Wiedersehen mit den Eltern, in Lübeck lebt die Familie in einem Lager. Während ihre Eltern schließlich nach Süddeutschland ziehen, bleibt Edith da, heiratet und lässt sich in Mölln nieder, wo sie als Lebensmittelverkäuferin und in einem Textilwerk arbeitet. Ihre Brüder sind inzwischen verstorben. Das Unglück aber vergisst sie nie. „Vor allem nachts, wenn ich wach liege, denke ich daran.“ Von ihrer Freundin Leni von Allwörden hat sie nie wieder etwas gehört, eine Nachforschung blieb erfolglos. Und immer wieder denkt sie an das Baby. „Habe ich es gerettet?“, fragt sie sich. Dann schüttelt sie den Kopf. „Dass ich noch lebe.“ Von Marcus Stöcklin

Mölln - „Ein Wunder, dass ich noch lebe“ – der Untergang der „Gustloff“