Hannover: Mafiamitglied in der MHH? Jetzt spricht Igor K.

Es ist ein Freitagvormittag. Igor K., der vor gut einem Jahr an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) wegen vielfacher Schussverletzungen behandelt wurde und dem die Polizei Hannover Verbindungen zur Organisierten Kriminalität nachsagt, und seine Frau Suzana sitzen im Büro einer Dolmetscherin in Montenegros Hauptstadt Podgorica vor einem Computerbildschirm. Er trägt einen hellgrauen Kapuzenpullover mit dem Logo des Sportartikelherstellers Nike, sie eine helle Bluse mit schwarzer Schleife. Die Corona-Masken nehmen die beiden für die Fotos bereitwillig ab. „Sie sehen, ich bin ein normaler Mensch“, sagt Igor K. leise. Es ist das erste Mal, dass der heute 36-Jährige über den Anschlag und die Geschehnisse in Hannover Auskunft gibt. Das Gespräch wird per Computer geführt. Auf deutscher Seite ist auch Rechtsanwalt Fritz Willig anwesend, der die Familie vertritt. Herr K., wie geht es Ihnen mehr als ein Jahr nach dem Anschlag? Im Alltag ist es schon schwer. Mein Bein ist in einem sehr schlechten Zustand, es tut weh und schwillt an. Weil ich das Bein nicht bewegen kann und nur mit Krücken laufe, besteht die Gefahr, dass die Blutgefäße im Bein verstopfen, was tödlich sein könnte. Auch die Hüfte schmerzt, weil sie sich durch den Bewegungsmangel bereits verformt hat. Auch psychisch geht es mir nicht besonders gut. „Von Anfang an waren die Möglichkeiten der Ärzte in Montenegro begrenzt“: Sind Sie in Montenegro in Behandlung? Nein. Es ist hier fast unmöglich, medizinische Hilfe zu bekommen. Von Anfang an waren die Möglichkeiten der Ärzte hier begrenzt, deshalb sind wir ja auch nach Deutschland gegangen. Nach der Ausweisung haben wir Mediziner in der Türkei, in Serbien, Bosnien, Kroatien, Russland und Israel kontaktiert. Wirklich helfen konnte niemand. Die Begründung ist immer ähnlich: Die Ärzte sagen, sie wüssten nicht, was sie erwartet, weil sie den ersten Eingriff nicht vorgenommen haben. Wo muss, aus Ihrer Sicht Ihre weitere Behandlung erfolgen? In Hannover. Nur Dr. Krettek an der MHH ist im Bilde, was meinen Gesundheitszustand betrifft. Er hat mir mein Bein nach dem Anschlag wieder zusammengeflickt. Er hat alles möglich gemacht. Jetzt geht es insbesondere um das linke Knie. Das kann nur in Hannover gemacht werden. Lesen Sie auch: Mafia-Boss in Behandlung? Massives Polizeiaufgebot an Krankenhaus in Hannover „Ich gehe davon aus, dass der Anschlag aus Neid verübt worden ist“: Auslöser für ihre Behandlung in Hannover ist ein Anschlag Ende Januar 2020 in ihrer Heimat gewesen, bei dem mehrfach auf Sie geschossen worden ist. Wie erklären Sie sich diesen massiven Angriff? Ich gehe davon aus, dass der Anschlag aus Neid verübt worden ist. Wir sind eine recht wohlhabende Familie, mein Schwiegervater hat eine große Firma, wo ich auch arbeite, das ist in Montenegro auch bekannt. Hier kennt jeder jeden. Deshalb kann ich mir die Tat nur so erklären, dass die Angreifer aus Neid gehandelt haben. Eine andere Erklärung habe ich nicht für den Anschlag. Das werden wir wohl erst können, wenn alle Beteiligten der Tat von der Polizei gefasst worden sind. (Anmerkung der Red.: In Montenegro läuft derzeit ein Verfahren gegen zwei Männer, die an der Tat beteiligt gewesen sein sollen. Der eigentliche Schütze, der Fahrer des Wagens und mögliche Hintermänner des Anschlags sind weiterhin unbekannt.) Gab es im Vorfeld Hinweise darauf, das Sie möglicherweise Ziel eines Anschlags sein könnten? Wenn es diese Hinweise gegeben hätte, hätte ich mich in Montenegro ganz anders verhalten. So aber habe ich die Kinder zur Schule gebracht und sie auch wieder abgeholt. Ich habe mich ganz normal bewegt. „Ich arbeite seit elf Jahren als Verkaufsleiter“: Was machen Sie in der Firma genau? Ich arbeite seit elf Jahren als Verkaufsleiter in unserem Unternehmen für Fensterbau. Ich zahle alle meine Steuern, alle Renten- und Sozialabgaben. Zu dem Unternehmen gehören weitere Firmen, ein Bauunternehmen, ein Hotel und eine Tankstelle beispielsweise. Die Polizei in Hannover sagt Ihnen, dem Verkaufsleiter für Fensterbau, Verbindungen zur Mafia in Montenegro nach. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf? Das ist unbegründet. Ich bin noch nie verurteilt worden. Ich bin strafrechtlich noch nie in Erscheinung getreten. Die MHH in Hannover ist während Ihres Aufenthalts dort rund um die Uhr von einem Großaufgebot der Polizei bewacht worden, weil die Behörden einen zweiten Anschlag auf Sie fürchtete. Haben Sie das mitbekommen, haben Sie darüber mit der Polizei gesprochen? Ja, das habe ich mitbekommen, das war ein großer Schock für mich. Wenn ich gewusst hätte, was meine Behandlung für Auswirkungen hat, wäre ich niemals in dieses Land gekommen – allein schon deshalb, um meiner Frau das alles zu ersparen, denn sie stand ebenfalls unter Schock. Unsere gesamte Familie ist durch die Aussagen schlecht gemacht worden. Das fühlt sich nicht gut an. Hat es seit Ihrer Rückkehr nach Montenegro weiter Versuche gegeben, Sie zu attackieren, Sie zu verletzen oder Sie zu erpressen? Nein. Hat es nach Ihrer Ausweisung in Hannover, während Ihres Aufenthalts in einem türkischen Krankenhaus, einen ähnlich großen Polizeieinsatz Ihretwegen gegeben? Nein. „Der zweite Igor K. kommt aus demselben Dorf wie ich“: Sie sagen, in Montenegro kenne jeder jeden. Kennen Sie dann auch den zweiten Igor K., mit dem sie möglicherweise verwechselt worden sind? Ja, ich habe von ihm gehört. Er kommt aus dem selben Dorf wie ich. Er ist bereits strafrechtlich verurteilt worden. Es liegt hier eine Verwechselung vor. Die Polizeidirektion Hannover bleibt auch mehr als ein Jahr nach dem Vorfall bei ihrer damaligen Einschätzung der Lage – mit einem entscheidenden Unterschied. Am 20. Februar 2020 hatte die Behörde offiziell Folgendes im Zusammenhang mit dem Aufenthalt von Igor K. in Hannover mitgeteilt: „Das im Ausland verübte Attentat gegen eine der Schutzpersonen, die als Angehöriger einer Großfamilie gilt, reiht sich in eine Serie von Taten seit 2014 ein, bei denen unter anderem Schusswaffen und Sprengmittel zum Einsatz gekommen sind.“ Weder von der Zugehörigkeit zu einer Großfamilie, noch von der Serie von anderen Straftaten ist in der aktuellen Stellungnahme der Polizeidirektion die Rede. Vielmehr heißt es jetzt: „Im Februar vergangenen Jahres erhielt diese Behörde Kenntnis darüber, dass an der medizinischen Hochschule Hannover eine Person nach einem versuchten Tötungsdelikt mit multiplen Schussverletzungen behandelt wird. Aufgrund der polizeilichen Erkenntnisse musste davon ausgegangen werden, dass für die betreffende Person auch während des Krankenhausaufenthaltes die ständige Gefahr bestand, erneut Opfer eines Tötungsdeliktes zu werden.“ Da es eine der Kernaufgaben der Polizei sei, Gefahren frühzeitig zu erkennen, und diese erfolgreich abzuwehren, seien umgehend entsprechende Schutzmaßnahmen angeordnet und durchgeführt worden. „Bezüglich des in Rede stehenden Einsatzes wurde gemeinsam mit anderen Sicherheitsbehörden eine Gefahrenbewertung vorgenommen und kontinuierlich fortgeschrieben. Die Polizeidirektion Hannover steht dazu weiterhin mit in- und ausländischen Sicherheitsbehörden in Kontakt. Aus dem bisherigen Austausch haben sich keine Erkenntnisse ergeben, die zu einer veränderten Lagebeurteilung führen. So ist eine in Rede stehende Verwechslung nach wie vor ausgeschlossen.“ Im Übrigen sei für die Entscheidung, eine gefährdete Person unter erhöhten Schutz zu stellen, auch von nachrangiger Bedeutung, welche privaten oder geschäftlichen Beziehungen sie pflege beziehungsweise ob diese Person zuvor selbst in krimineller Weise in Erscheinung getreten sei, teilt die Polizei weiter mit. „Wir bitten um Verständnis, dass wir derzeit keine detaillierten Angaben zu den polizeilichen Erkenntnissen machen können, zumal die parlamentarische Befassung mit dem Thema noch nicht abgeschlossen ist“, heißt es in der Stellungnahme weiter. Die Behörde äußert sich auch nicht zu dem Umstand, dass die türkische Polizei nach der Ankunft von Igor K. in Istanbul, wo er sich nach der Ausweisung aus Deutschland aufgehalten hatte, offenbar zu dem Schluss gekommen war, dass in der Türkei für den Verletzten keinerlei Gefahr bestand. Denn Polizeischutz hat Igor K. während seiner Behandlung in Istanbul nicht erhalten. Die Polizei schweigt auch zu dem Umstand, dass auch die Behörden in Igor K.s Heimat Montenegro ihn nach seiner Rückkehr ebenfalls nicht unter Polizeischutz gestellt haben – offenbar weil die Gefahrenbewertung vor Ort ebenfalls anders ausgefallen ist. Von Tobias Morchner