Hinter den Kulissen des Landgerichts Lübeck

Die große Gittertür rattert laut, als Sven Müller sie zur Seite schiebt. Müller ist leitender erster Justizhauptwachtmeister am Gericht. Durch das Tor geht es hinein in das Landgericht. Allerdings nicht für die Richter, Anwälte oder Zuschauer, sondern für die Angeklagten, denen schwere Straftaten vorgeworfen werden. Sie werden mit dem Gefängnistransporter der Justizvollzugsanstalt in den gesicherten Innenhof gefahren. Wenn das Tor wieder geschlossen ist, übernehmen die Wachtmeister des Gerichts den Gefangenen von den JVA-Beamten. „Wir bekommen einen Haftbegleitschein, dann wissen wir schon mal, mit wem wir es zu tun haben“, erklärt Müller. Darauf ist vermerkt, ob jemand aggressiv ist oder bereits versucht hat auszubrechen. „Unabhängig davon wird aber jeder Gefangene gefesselt“, sagt der Justizwachtmeister, der mit seinen 15 Mitarbeitern für die Sicherheit zuständig ist. Der Grund ist einleuchtend: Vor dem Landgericht landen nur die schweren Fälle. Ein Strafprozess findet immer dann vor dem Landgericht statt, wenn eine Haftstrafe von mehr als vier Jahren zu erwarten ist. Gefangene kommen durch den Kellerflur: Vom Innenhof geht es durch einen langen, weiß gekalkten Kellerflur zu einer schweren Tür, dahinter liegt der so genannte Vorführraum mit fünf kleinen Zellen. Dort warten die Angeklagten auf den Prozessbeginn und während der Verhandlungspausen. Die Räume sind etwa fünf Quadratmeter groß. In ihnen stehen Holzpritschen, die Wände sind weiß – bis auf die Graffiti, die Häftlinge auf die Wand geschmiert oder in den Putz geritzt haben. Das Niveau der Texte liegt noch deutlich unter dem des Kellerfußbodens. „Wenn es sehr lange dauert, lassen wir die Gefangenen zwischendurch auch mal auf dem Hof eine rauchen oder wir geben ihnen eine Auto- oder Sportzeitschrift zum Lesen“, sagt Müller. Müller ist nicht nur groß, er kann seine Stimme auch schnell mit Donnerhall versehen. „Mit meiner Stimme habe ich bisher alles in den Griff bekommen“, sagt er lächelnd. Er macht den Job jetzt seit gut 30 Jahren und musste noch nie seinen Stock zücken. Zivilrecht bestimmt den Alltag: Für die großen Strafprozesse sind die Landgerichte bekannt. „Daneben wird der gerichtliche Alltag aber auch durch die Zivilsachen bestimmt“, erklärt Dr. Stephan Bahlmann, Vorsitzender Richter am Landgericht. Erben streiten sich um einen Nachlass, eine Versicherung will nicht zahlen, ein Bauunternehmen soll mangelhaft gearbeitet haben oder das neu gekaufte Auto ist kaputt. All diese Fälle werden vor dem Zivilgericht verhandelt. 2600 neue Zivilrechtsfälle landeten im vergangenen Jahr auf dem Tisch des Landgerichts. Vor dem Strafgericht wurden im selben Zeitraum nur 94 Fälle in erster Instanz behandelt. Allerdings nehmen diese Fälle dafür häufig weit mehr Verhandlungstage in Anspruch. Richterzimmer sind unspektakulär: Ein Blick in die Richterzimmer zeigt: Schwere Eichenschreibtische, Perserteppiche, grüne Bankerleuchten oder Cognacflaschen sucht man hier vergeblich, so etwas gibt es also wohl doch nur im Film. Stattdessen ein kleiner Raum mit Schreibtisch, auf dem zwei Monitore stehen, ansonsten noch zwei Stühle und eine Zimmerpflanze. Das Ganze auf gut auswischbarem Linoleumboden. Doch nicht nur über die Einrichtung, auch über das Richteramt selbst gebe es häufig falsche Vorstellungen, erklärt Dr. Ole Krönert, Präsident des Landgerichts: „Die berühmte Unabhängigkeit bedeutet eben nicht, dass der Richter machen kann, was er will“, sagt Krönert. Ein Richter müsse sich strikt an Recht und Gesetz halten und die Unabhängigkeit sei dabei eher eine Pflicht. „Konkret geht es darum, sich von Druck, der von außen ausgeübt wird, freizumachen und die professionelle Distanz zu wahren“, sagt Krönert. Das ist nicht immer eine leichte Aufgabe. So darf ein Richter sich nicht allein davon leiten lassen, ob ein Angeklagter prominent ist oder ob das öffentliche Entsetzen über eine Straftat besonders groß ist. Eine gewisse Rolle kann es aber auf der anderen Seite schon spielen, wenn der Angeklagte zum Beispiel eine Vorbildfunktion hat. Große Freiheiten im Interesse unabhängiger Rechtsfindung haben Richter allerdings sehr wohl. Sie bekommen zwar für ihr Fachgebiet nach einem Geschäftsverteilungsplan Fälle zugewiesen. Aber wann und wie sie sie bearbeiten, ob sie die Akten im Büro oder zu Hause durcharbeiten und wann sie die Verhandlungen ansetzen, all das entscheidet ein Richter selbst, wobei er an die gesetzlichen Vorschriften einschließlich der jeweiligen Prozessvorschriften gebunden ist. So soll zum Beispiel, wenn der Angeklagte in Untersuchungshaft sitzt, der Prozess nach spätestens sechs Monaten beginnen. Gewichtige Strafsachen und Zivilsachen „in vermögensrechtlichen Streitigkeiten mit einem Streitwert über 5000 Euro“ sind in der ersten Instanz ein Fall für das Landgericht. In zweiter Instanz entscheidet das Landgericht auch über Berufungen und Beschwerden gegen Entscheidungen der Amtsgerichte, die zu seinem Bezirk gehören. Der Bezirk umfasst die Amtsgerichte Ahrensburg, Eutin, Oldenburg in Holstein, Ratzeburg, Reinbek, Schwarzenbek und natürlich Lübeck selbst. Dabei weist das Amtsgericht Lübeck als größtes Amtsgericht eine Sonderstellung auf: es hat einen eigenen Präsidenten und ist verwaltungsmäßig nicht dem Landgerichtspräsidenten unterstellt. Die Amtsgerichte sind für kleinere Strafsachen und zum Beispiel für Wohnungsmietsachen sowie alle Fälle des Familienrechts zuständig. „Wenn es um die Mietwohnung, Sorgerecht, Scheidung oder Unterhalt geht, sollen die Menschen möglichst vor Ort gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen können“, sagt Landgerichtspräsident Dr. Ole Krönert. 135 Mitarbeiter arbeiten am Landgericht in Lübeck, darunter 48 Richter, 14 Rechtspfleger und 16 Justizwachtmeister. 6 Jahre muss eine Prozessakte aufbewahrt werden, danach wird der größte Teil vernichtet. Das Urteil selbst muss sogar 30 Jahre aufbewahrt werden. Einblick in die Akten kann jeder beantragen, um die Unterlagen aber wirklich ansehen zu dürfen, braucht es ein rechtliches Interesse. Neugierde, ob das Gerücht über den Nachbarn stimmt, gehört zum Beispiel nicht zu den rechtlichen Interessen. 50 000 Akten lagern derzeit ungefähr in den Kellern des Landgerichts. Zwei Wachtmeiste r pro Gefangenem ist die Grundregel bei der Bewachung. In größeren, emotional aufgeladenen Prozessen kann es jedoch auch sein, dass weitere Wachtmeister unter anderem für das Publikum oder die Betreuung der Medienvertreter abgestellt werden. 102 471 Minuten betrug die offizielle Jahresarbeitszeit eines Richters am Landgericht im Jahr 2018. Die Richter nutzen jedoch keine Stoppuhr. Es gibt Statistiken darüber ob eine bestimmte Art von Fall zum Beispiel im Schnitt 500, 750 Minuten oder 1000 Minuten Arbeit für den Richter bedeutet. Für die Zuweisung neuer Fälle an die einzelnen Richter bilden diese Werte einen Orientierungspunkt. Gehen in einem Jahr mehr Fälle ein als es die Jahresarbeitszeit vorsieht, müssen auch diese von den Richtern bearbeitet werden, ohne dass sogleich personelle Verstärkung vor Ort zur Verfügung steht. Erst für die Personalzuweisung auf Landesebene im Folgejahr ist dies dann ein Signal für höheren Personalbedarf. Braucht der Richter in Wirklichkeit nicht so lange oder länger als es die Durchschnittswerte hergeben, ist das egal. Unter- oder Überstunden gibt es nicht. Von Sven Wehde

Exklusive Einblicke - Hinter den Kulissen: So funktioniert das Landgericht Lübeck