Laborärzte-Chef aus Lübeck: „Massentests sind der falsche Weg“

Als Vorsitzender des Berufsverband Deutscher Laborärzte (BDL) plädiert Diplom-Chemiker Dr. rer. nat. Andreas Bobrowski im LN-Interview für einen besonnenen Einsatz der Labor-Kapazitäten, um bei punktuellen Infektionsausbrüchen schnell und effizient auf Covid-19 testen zu können. Solange es keine Impfstoffe gibt, sind die medizinischen Labore die große Hoffnung der Menschen auf wissenschaftliche Erkenntnisse im Umgang mit Covid-19. Können Sie ihnen Hoffnung machen? Im Gegensatz zu vielen europäischen Staaten steht Deutschland derzeit bei der Bekämpfung der Pandemie sehr gut da. Dies ist vor allen Dingen der Tatsache zu verdanken, dass wir über eine flächendeckende und wohnortnahe Laborversorgung verfügen und in den Laboratorien seit vielen Jahren eine hohe Expertise auch in der Entwicklung von Testsystemen vorhanden ist. Zu Beginn der Pandemie war es deshalb möglich, durch Selbstherstellung von PCR-Testen sogenannte „In-house-Teste“ sehr schnell in relativ hoher Anzahl zur Verfügung zu stellen, die dann im Verlauf der Krise durch Lieferungen der Diagnostika-Industrie ergänzt und erweitert wurden. Ein Zeitvorteil also, der geholfen hat . . . Ja, er hat bei der schnellen Identifikation der betroffenen Personenkreise und deren umgehender Isolierung wesentlich zu der günstigen Situation geführt, die wir derzeit haben. Die Infrastruktur für Probenentnahme, Transport, telefonische Befunddurchsage und die digitale Übermittlung der Befunde konnten in kürzester Zeit umgesetzt werden. Dass die jetzt zur Verfügung stehenden Testkapazitäten derzeit den Bedarf bei weitem übersteigen, zeigt, dass bis zum Vorliegen eines Impfstoffes die deutsche Laboratoriumsmedizin sehr gut auch auf punktuelle Ausbrüche sowie eine möglicherweise noch bevorstehende zweite Pandemiewelle vorbereitet ist. Wie viele Teste werden jede Woche durchgeführt und wie viele Personen wurden seit Beginn der Pandemie in Deutschland getestet? Nach den aktuellen Erhebungen des RKI wurden in ca. 200 Laboratorien 3,5 Mio. Testungen seit Beginn der Pandemie durchgeführt. Im Durchschnitt waren dabei etwa 6,0 Prozent der untersuchten Proben positiv, dies allerdings mit fallender Tendenz, in Kalenderwoche 21 lieferten nur noch knapp zwei Prozent der Testungen ein positives Ergebnis. Die mögliche Kapazität beträgt derzeit pro Woche bei knapp einer Million Teste, wird aber nur zu ca. 45 Prozent ausgenutzt. Deshalb ist es ohne Probleme möglich, die vom Gesetzgeber geforderte 24-Stunden-Frist von Probeentnahme bis Rückübermittlung des Ergebnisses einzuhalten. Ist das mit einem Acht-Stunden-Tag der Mitarbeiter zu schaffen? Schon unter normalen Bedingungen gibt es zahlreiche Laboratorien in Deutschland, die im 24-Stunden-Betrieb arbeiten. Jetzt waren aber alle Laboratorien gezwungen, ihre Arbeitszeiten nochmals deutlich auszuweiten, zusätzliches Personal einzustellen. Alle Laboratorien, die Corona-Testungen durchführen, arbeiten derzeit an sieben Tagen in der Woche. Ist die hohe Zahl von Testungen mitverantwortlich für die weit hinter den Befürchtungen zurückgebliebenen Zahlen von Krankenhauseinweisungen? Da alle Laboratorien in Deutschland ärztlich geführt werden, konnte die von der Politik, den ärztlichen Standesorganisationen sowie den Berufsverbänden von Beginn an ausgegebene Devise umgesetzt werden, die nur begrenzt zur Verfügung stehenden Krankenhauskapazitäten mit Beatmungsplätzen durch ein hohes Engagement in der ambulanten Medizin zu schützen. Insofern war es von Anfang an das Ziel der deutschen Fachärzte für Laboratoriumsmedizin, nicht nur eine hohe Anzahl von Testungen bereitzustellen, sondern auch die Ergebnisse schnell zu übermitteln. Auch die unkomplizierte und sehr gute Zusammenarbeit zwischen Kostenträgern und Kassenärztlichen Vereinigungen bei der Bereitstellung von zusätzlichen Finanzmitteln hat zu dieser Entwicklung beigetragen. Die Labore sind also kein limitierender Faktor. Zuletzt waren Engpässe beim Material das Thema. In der Tat waren am Anfang fehlende Reagenzien und Abnahmematerialien ein limitierender Faktor. Hinzu kamen eine starke Überlastung der Firmentechniker sowie teilweise auch fehlende Ersatzteile für die benötigten Geräte. Die meisten dieser Probleme konnten aber durch Ersatzbeschaffungen sowie das Improvisationstalent in den Laboratorien überbrückt werden, so dass es nur sehr kurzfristig zu leichten Verzögerungen in der Analytik kam. Vergangenheitsform? Aktuell läuft’s also reibungslos? Die Versorgung hat sich inzwischen zwar verbessert, die theoretisch möglichen Testkapazitäten können aber auch jetzt noch nicht ausgeschöpft werden, da nach wie vor ein Mangel vor allen Dingen an RNA-Extraktionskits sowie PCR-Reagenzien besteht. Den zu beheben, wäre aber die Voraussetzung, wenn in absehbarer Zeit die Forderung der Politik nach 3 Millionen Teste pro Woche umgesetzt werden soll. Wie zuverlässig sind aktuell die Ergebnisse der verschiedenen Teste? Mit der Möglichkeit, die Coronavirus-RNA im Direktnachweis mit der PCR zu bestimmen, steht derzeit das Laborverfahren mit der höchsten Spezifität zum Nachweis einer akuten Infektion zur Verfügung. Dennoch muss jedes Testergebnis in Bezug auf ein geschätztes Erkrankungsrisiko ärztlich bewertet werden, insbesondere bei negativen Testungen. In diesen Fällen könnte, um das Risiko falsch-negativer Ergebnisse zu vermeiden, ein wiederholtes Testen angezeigt sein. Und die Bestimmung der schützenden IgG-Antikörper? Hier gilt in noch viel höherem Maße, dass in deren Beurteilung auf jeden Fall der anamnestisch erhobene Krankheitsverlauf mit einfließen muss. Hinzu kommt, dass nach dem heutigen Erkenntnisstand der alleinige Nachweis von IgG-Antikörper gegen das COVID-19 noch keine Aussage darüber treffen kann, ob wirklich ein ausreichender Schutz gegen eine Reinfektion besteht. Sind Antikörper-Teste geeignet, wenn die Menschen wissen wollen, ob sie die Infektion durchgemacht haben? Im Prinzip ja, und die bisher schon durchgeführten ca. 63.000 Antikörper-Untersuchungen pro Woche scheinen zu bestätigen, dass die vorliegenden Teste in ausreichender Genauigkeit eine durchgemachte Infektion anzeigen. Allerdings besteht bei der hier zum Einsatz kommenden ELISA-Technik in sehr geringem Umfange auch die Möglichkeit eines falsch-positiven Ergebnisses und es fehlt – wie schon erwähnt – der letztendliche Nachweis, dass die nachgewiesenen Antikörper auch wirklich gegen eine neue Infektion schützen. Über diese Tatsachen sollte der Arzt in jedem Fall seinen Patienten aufklären. Sind die Antikörperteste auch wissenschaftlich hilfreich? Sie werden mit Sicherheit diejenige Bestimmung sein, mit der man zukünftig die epidemiologischen Studien zur Erfassung des Durchseuchungsgrades in der Bevölkerung durchführen wird. Hierzu werden zur Zeit auch in Lübeck Antikörper-Untersuchungen an ca. 3000 Freiwilligen durchgeführt. Die so erhaltenen Daten werden auch bei der Ausarbeitung einer Impfstrategie hilfreich sein sowie eine Gefährdungsbeurteilung der unterschiedlichen Altersgruppen ermöglichen. Müssen wir dennoch letztlich auf einen Impfstoff warten, um zum Regelbetrieb zurückkehren zu können? Diese Frage ist vom heutigen Standpunkt aus äußerst schwer zu beantworten, da derzeit die Neuerkrankungsrate speziell in Norddeutschland fast gegen Null geht, alle Experten aber vor einer zweiten Welle im Herbst warnen. Die vielfach geschürte Hoffnung, dann zeitnah einen Impfstoff zur Verfügung zu haben, muss äußerst kritisch bewertet werden. Im Normalfall dauern diese Entwicklungen zwischen fünf und zehn Jahren, so dass der jetzt in der Öffentlichkeit auch diskutierte Zeitraum von ein oder zwei Jahren schon ein Riesenerfolg wäre. Dennoch besteht die Hoffnung, dass wir auch ohne Impfstoff noch in diesem Jahr zu einer Art Regelbetrieb zurückkehren können, da die Untersuchungen auf Corona-Viren zukünftig zum Alltagsgeschäft der Laboratorien gehören werden. Sollte angesichts der freien Laborkapazitäten mehr getestet werden? Die immer wieder von der Politik geäußerte Forderung „Testung für alle“ sollte jedenfalls sehr kritisch beurteilt werden. Es ist aus unserer Sicht der falsche Weg. Eine solche Vorgehensweise bindet die für die Bekämpfung von Ausbruchsszenarien, wie wir sie jetzt in Schlachthöfen erlebt haben, dringend benötigten Kapazitäten und fördert damit möglicherweise die Verbreitung des Coronavirus eher als sie zu verhindern. Deshalb bleibt aus unserer Sicht ein medizinisch-indiziertes Anforderungsverhalten auch im Fall des Screenings und ein maßvoller Umgang mit Testressourcen weiterhin der Königsweg. Also auch keine Massentestungen an symptomlosen Mitarbeitern in Alten- und Pflegeeinrichtungen und den dortigen Patienten? Dies gilt auch für die vom Gesetzgeber jetzt im 2. Pandemiegesetz vorgesehenen Gruppen. Auch hier gilt es vor jeder Testanforderung ein entsprechendes Risikoprofil zu erstellen. Fatal wäre es dabei, wenn derzeit bestehende Sicherheitsmaßnahmen vor dem Hintergrund ausreichender Testkapazitäten gelockert würden und damit ein deutlich erhöhtes Risiko für die eigentlich zu schützenden Einrichtungen entstehen könnte. Im Fall von Ausbrüchen – und dies sei nochmals betont – sind vor allen Dingen die kurze Zeit von Probenentnahme bis zum vorliegenden Ergebnis und das Einleiten von Maßnahmen die entscheidenden Faktoren und nicht die Tatsache, für ungerichtete Testungen ausreichende Kapazitäten zu besitzen. Sind die von der Politik veranlassten Maßnahmen aus Ihrer Sicht ausreichend? Aus Sicht von uns Labormedizinern haben die maßgeblich politisch Verantwortlichen sowohl auf Bundes- wie auf Landesebene zu jedem Zeitpunkt, bezogen auf den jeweiligen Entwicklungsstand der Pandemie, die richtigen Entscheidungen getroffen und diese auch – soweit möglich – transparent gegenüber der Bevölkerung kommuniziert. Immer da, wo staatlicher Druck notwendig war, wurde dieser auch eingesetzt. Auf der anderen Seite haben die staatlichen Stellen den ärztlichen Selbstverwaltungsorganisationen einschließlich der Kostenträger ausreichend Raum zur Ausgestaltung und Umsetzung der jeweiligen Maßnahmen gelassen. Hat die Pandemie der Gesellschaft auch ein Stückweit die Augen geöffnet beim Blick aufs Gesundheitswesen? Das trifft in ganz besonderem Maße auf das Bewusstsein in der Bevölkerung zu. Im über viele Jahre stiefmütterlich behandelten öffentlichen Gesundheitswesen wurden jetzt – unter dem Eindruck der Pandemiefolgen in anderen europäischen Staaten – die seit vielen Jahren überfälligen personellen Verstärkungen umgesetzt sowie die Bereitstellung zusätzlicher Mittel genehmigt. Es bleibt zu hoffen, dass mit dem jetzt beschlossenen 2. Pandemie-Gesetz auch die jahrelangen Defizite vor allen Dingen in der Digitalisierung und der Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Robert Koch-Institut und Landesgesundheitsämtern endlich in Angriff genommen werden. Worauf kommt es jetzt an? Es gilt, die bisher erzielten Erfolge, zu denen auch die Labormedizin in Deutschland einen entscheidenden Beitrag geleistet hat, zu sichern und bei der Öffnung von Wirtschaft und Tourismus in unserem Land äußert umsichtig vorzugehen. Dazu gehört auch eine umfängliche Aufklärung der Bevölkerung über den aktuellen Stand des Infektionsgeschehens. Mit den objektiven Ergebnissen der labormedizinschen Untersuchungsmethoden sollte es auch möglich sein, die in der Bevölkerung nach wie vor weit verbreitete Angst vor Infektionen einzudämmen. Gleichzeitig können diese Ergebnisse auch genutzt werden, um die Verbreitung von Verschwörungstheorien zu unterbinden, mit denen derzeit versucht wird, eine Spaltung unserer Gesellschaft herbeizuführen. Dr. rer. nat. Dipl. Chem. Andreas Bobrowski (Jahrgang 1956, verheiratet, vier erwachsene Kinder) hat sich 1994 als Facharzt für Laboratoriumsmedizin in Lübeck niedergelassen, betreibt in der Von-Morgen-Straße eine laborärztliche Gemeinschaftspraxis mit drei weiteren Ärzten. Er ist seit 2004 Vorstandsvorsitzender im Berufsverband Deutscher Laborärzte (BDL), seit 1999 Abgeordneter in der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH), seit 2011 Abgeordneter der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und seit 2005 Kreisstellenvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Lübeck. Von Christian Schlichting

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