Leitartikel: Mehr Mut bei der Pandemie-Bekämpfung, bitte

Boris Palmer war schon immer ein Querkopf. Viele hat er genervt. Der Pragmatismus, mit dem er als Grünen-Oberbürgermeister in Tübingen offenbar erfolgreich die Corona-Pandemie bekämpft, nötigt dennoch Respekt ab. Jetzt schlägt er vor, Läden, Restaurants und Kultureinrichtungen erst mal für jene zu öffnen, die zuvor einen Schnelltest gemacht haben, will dazu Test-Stationen etwa in Fußgängerzonen einrichten. Die Reaktion vieler Politiker im Norden war so vorhersehbar wie enttäuschend. „Kalter Kaffee“, nicht umsetzbar, wir haben längst andere Ideen – ja, aber welche? Einzig FDP-Wirtschaftsminister Bernd Buchholz nimmt die Anregung auf: Wenn so etwas hilft, den von einer Pleitewelle ungeahnten Ausmaßes bedrohten Einzelhandel, die Gastronomie und die Kulturszene zu retten, dann sollte man es versuchen. Schnelltests nicht zu 100 Prozent zuverlässig: Natürlich warnen auch jetzt Experten wieder, dass die Schnelltests noch gar keine hundertprozentige Zuverlässigkeit haben. Das ist richtig. Und das ist auch ihr Job. Nehmen wir das als Mahnung an die Hersteller, immer noch besser zu werden. Darauf warten sollten wir nicht. Eine Pandemie muss sofort bekämpft werden. Ausprobieren muss das Motto sein. Versuch und Irrtum. Wenn etwas nicht wirkt, hat man es wenigstens gewagt. Wenn es wirkt, umso besser. Ohnehin hat sich in dieser Pandemie doch längst gezeigt, dass unser durchverbeamtetes und durchgeregeltes Staatswesen mit so einer Krise gar nicht richtig fertig werden kann. Beispiele? Eine Testung aller in Deutschland ankommenden Flugpassagiere auf das Virus im Sommer? Fehlanzeige. Der bessere Schutz der Alten- und Pflegeheime durch mehr Personal, Unterstützung der Bundeswehr und Testpflichten für Mitarbeiter und Besucher? Nichts. Die zweite Welle ließ man gerade dort unbarmherzig zuschlagen. Die Ausstattung der Schulen mit Lüftungsanlagen, um sie weiter offenhalten zu können? Versagt. Lieber wurde unseren Kinder und Jugendlichen noch mehr Lebenszeit im Lockdown gestohlen. Lesen Sie auch Corona-Lockerungen: So läuft die Experten-Anhörung im Landtag von SH Prien: Lehrer und Erzieher in SH werden ab März geimpft Open-Air-Fitnessstudios von McFit öffnen – aber nicht in SH Abbau von Freiheitsrechten: Mit dem Abbau von Freiheitsrechten sind Beamte und Politiker derzeit viel schneller bei der Hand. Mit Ladenschließungen etwa, die einem Berufsverbot gleichkommen. Nichts deutet zum Beispiel auch darauf hin, dass eine verfassungsrechtlich höchst fragwürdige nächtliche Ausgangssperre, wie jetzt in Flensburg, irgendetwas Spürbares gegen die Pandemie ausrichten kann. Trotzdem hat die Jamaika-Regierung sie verhängt und die Bürger zeitweise zu Gefangenen in ihrem eigenen Land gemacht – offenbar aus nackter Angst, sich am Ende vorwerfen lassen zu müssen, überhaupt nichts getan zu haben. Wenn die Pandemie endlich vorüber ist, wird darüber zu reden sein, was sich in diesem Land ändern muss, damit es wieder zukunftsfit und krisensicher wird. Damit die Pandemie endet, müssen die Politiker auch im Norden endlich mutiger werden. Und dazu gehört auch, sich den Ideen der Vielen zu öffnen, die sich ihr altes Leben mindestens so sehr zurücksehnen wie die meisten in Politik und Verwaltung. Die Schnelltests jedenfalls könnten am Ende noch zu viel mehr Öffnungen führen, als Palmer sie jetzt vorgeschlagen hat. Von Wolfram Hammer