Lübecker Bischöfin Fehrs zum Karfreitag: Hoffnung fängt unten an

So gern möchte ich an dieser Stelle von Ostern erzählen, vom Leben, das sich gegen alle Widerstände durchsetzt. Ich möchte von Zuversicht schreiben, die jeder Resignation trotzig die Stirn bietet. Vom Trost auch, der traurigen und erschöpften Seelen Mut zuspricht. So groß ist die Sehnsucht nach Aufbruch, Frühling, Freiheit. Nach innerer und äußerer Befreiung zu unbeschwertem, unbedrohtem Leben. Neues Leben, neue Hoffnung – was für eine wunderbare Osterbotschaft ist das, die so gut tut. Gut tun würde – denn heute ist erst Karfreitag. Klage ist angesagt, Tränen und Zorn bekommen ihren Raum: Heute sind in anderen Jahren überall in Kirchen und Konzertsälen diese unnachahmlich genial vertonten Worte aus Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion erklungen: „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen!“ Ja, Klage ist angesagt, Tränen und Zorn bekommen ihren Raum. Hoffnung fängt ganz unten an, im Dunklen. Die Toten, die in dieser Pandemiezeit für immer gegangen sind, kommen nicht wieder: Im Tod Jesu, an den der Karfreitag ja erinnert, schwingt so viel mit: Die ganze Hoffnungs- und Aussichtslosigkeit, die menschliches Leben bereithalten kann. Da ist kein Trost, nur Gottverlassenheit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Manchmal unüberhörbar laut und aufdringlich, manchmal still und unbemerkt. Die Toten kommen nicht wieder, auch nicht jene, die in dieser Pandemiezeit für immer gegangen sind. Jung und Alt. Wer den Weg durch die Trauer kennt weiß, dass die Hoffnungslieder oft nicht so schnell wieder über die Lippen kommen. Erschöpfung und Existenzangst schreien nach Zuversicht: Andere haben ihre wirtschaftliche Existenz oder ihren Arbeitsplatz verloren. Vielleicht für eine Zeit, vielleicht für immer. Erschöpfung und Existenzangst schreien nach Zuversicht und machen sich Luft in Klageliedern an Stammtischen – ach, es gibt sie ja gerade gar nicht! –, in sozialen Netzwerken, auf der Straße. Junge Menschen mussten Träume und Pläne begraben, sie bangen um Perspektiven für ihr Leben und fragen, wie die Zukunft aussehen wird. Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen, es gibt reichlich zu tun! Kein Leiden darf ungesehen bleiben, kein Mensch ignoriert werden: Verweinte Augen sehen schlechter, und es kann passieren, dass die Mitmenschen aus dem Blick geraten. Vertrauen, Zusammenhalt und Solidarität brauchen unsere Aufmerksamkeit. Das fängt bei uns selbst an, muss aber die vielen Kinder in den Elendslagern, die Hungernden in Syrien, oder die Niedergeschossenen in Myanmar einschließen. Auch dafür steht der Karfreitag: dass kein Leiden ungesehen bleibt und kein Mensch ignoriert werden darf. Menschlichkeit entscheidet sich ganz unten. Sehet, Jesus hat die Hand uns zu fassen ausgespannt: Als Jesus in den letzten Atemzügen liegt, menschlich uns so nah, singt der Alt in der Matthäus-Passion unerhört zart und tröstlich: „Sehet, Jesus hat die Hand, uns zu fassen ausgespannt, kommt – wohin? – in Jesu Arme“. Trost und Hoffnung haben das letzte Wort, bevor die Stille beginnt. Von Bischöfin Kirsten Fehrs