Mediensucht in der Pandemie: Segeberger Psychologe rät zu smartphonefreien Zeiten

Dr. Tim Aalderink ist Psychologischer Institutsleiter in der Schön Klinik Bad Bramstedt. Herr Dr. Aalderink, nutzen Sie Ihr Smartphone während des Lockdowns eigentlich auch mehr als früher? Na klar (lacht), das ist tatsächlich so. Gerade wenn ich an die Wochenenden denke, dann sind viele Aktivitäten von früher nicht möglich. Dadurch gehe ich jetzt einerseits mehr spazieren, aber ich nutze auch das Smartphone und soziale Medien häufiger. Haben Sie denn beruflich in der Corona-Krise auch mit mehr Menschen zu tun, für die die Nutzung von Computer oder Smartphone zu einem echten Problem wird? Da müssen wir unterscheiden. Bei mir in der Klinik in Bad Bramstedt betreuen wir die allerschwersten Fälle der Mediensucht. Das sind Patienten, die auch unter weiteren schweren psychischen Störungen leiden, die wiederum Ursache oder die Folge der PC-Sucht sind. Diese Menschen sind oft über Monate zu Hause verwahrlost, sie haben keinen Tag-Nacht-Rhythmus mehr und ernähren sich nicht mehr richtig. Diese Gruppe hat sich im Lockdown noch mehr zurückgezogen und eingeigelt. In den mittleren Bereichen der Smartphone-Sucht weiß ich durch Kollegen und Studien, dass die Unterstützungsangebote in den Suchtberatungsstellen, aber auch Online-Unterstützungsangebote ebenfalls mehr wahrgenommen werden als früher, und dass das süchtige Verhalten zugenommen hat. Ich selbst habe auch mehr Anrufe von Betroffenen bekommen, die nach Hilfe gefragt haben. Gibt es bei der Mediensucht eigentlich Veränderungen, also dass die Menschen früher mehr Spiele am Computer gespielt haben und heute süchtig nach ihrem Smartphone und Social Media sind? Selbst als das Smartphone noch nicht so verbreitet war, gab es nicht nur die klassische PC-Spielsucht, sondern auch damals waren Menschen schon am Computer in sozialen Netzwerken unterwegs oder haben süchtig gesurft. Derzeit sind die Spielekonsolen und das Smartphone aber auf dem Vormarsch. Doch auch da ist das Suchtverhalten sehr unterschiedlich. Es gibt Menschen, die auch auf dem Smartphone extrem viel spielen, es ist aber auch die süchtige Nutzung von sozialen Medien sehr verbreitet. Gerade auf Instagram oder Facebook werden dann nicht nur die eigenen Kontakte gecheckt und selber kommuniziert, sondern die Menschen lesen und gucken dann stundenlang, was in bestimmte Blasen passiert oder was Prominente machen. Warum steigt die Sucht nach Handy und PC in der Corona-Krise an, ist das nur die Langeweile? Nein. Auf der einen Seite sind die Endgeräte fast überall verfügbar. In Deutschland haben 97 Prozent der Jugendlichen ein eigenes Smartphone, in 95 Prozent der Familien gibt es einen Fernseher und in rund 71 Prozent eine Spielekonsole. Die Verfügbarkeit ist also sehr hoch. Auf der anderen Seite gibt es im Lockdown zwar die Langeweile, aber auch die psychischen Belastungen in den Familien haben zugenommen. Das sehen wir auch an der Inanspruchnahme von Psychotherapien. Diese erhöhte psychische Belastung ist ein ganz wichtiger Faktor bei der Entwicklung einer Mediensucht, denn ein Mensch wird normalerweise nicht mediensüchtig, weil er gern am PC spielt oder gern das Smartphone nutzt. Als Therapeuten wissen wir, dass dazu immer noch weitere große Probleme kommen müssen, sonst rutscht man nicht in eine solche kritische Situation rein. Und diese psychische Belastung hat natürlich in Zeiten von Corona zugenommen, das es viele Konflikte und Einsamkeit gibt. Können nicht aber zum Beispiel Eltern ihre Kinder im Lockdown viel besser kontrollieren? Ja, sie tun es aber oft nicht. Das ist sehr interessant: Eine Hamburger Studie hat das Verhalten der Eltern im Lockdown untersucht und festgestellt, dass zwar der Medienkonsum der Kinder zugenommen hat, die Regulierung durch die Eltern aber zurückgegangen ist. Der Hintergrund ist offenbar: Die Eltern sind ebenfalls durch den Lockdown belastet und sind dann einfach froh, wenn die Kinder mal beschäftigt sind. Es nimmt also die psychische Belastung zu, aber die Kontrolle ab. Das bereitet dann die Wege in die Sucht. Es kommt doch aber auch auf die Nutzung an. Wenn wir auf dem Smartphone ein Buch lesen, Musik oder einen Podcast hören, ist das ja nicht schlecht. Wenn wir früher vor dem Radio gesessen oder ein normales Buch gelesen haben, war das ja auch sinnvoll. Ja, das ist ganz wichtig. Das Smartphone ist ein Instrument, mit dem wir sehr viel erledigen können und die reine Nutzungsdauer ist nicht entscheidend dafür, ob eine Sucht vorliegt – auch wenn wir natürlich genau hingucken müssen, wenn jemand das Smartphone mehr als fünf Stunden am Tag nutzt, ohne dass es dabei um die Schule oder den Beruf geht. Übersicht für Schleswig-Holstein: Wie stark verbreitet sich die Corona-Erkrankung? Übersicht für Deutschland: Die Gesamtentwicklung, alle Hotspots und Reisewarnungen Diese beiden Artikel sind kostenlos für alle lesbar, die nachfolgenden regionalen Analysen sind LN-Plus-Lesern vorbehalten. Testen Sie jetzt kostenlos LN+! Interaktive Karte: Wo sind die Corona-Hotspots in Schleswig-Holstein? Wo würde eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit gelten? Analyse: Gibt es mehr Corona-Infektionen, weil auch mehr getestet wird? Belegung der Krankenhäuser mit Corona: Wie viele Intensivbetten in Schleswig-Holstein sind frei? Wie viele Menschen wurden bisher in SH gegen Corona geimpft? Mehr aus Ihrer Region: Zahlen und Fakten zum Coronavirus in Lübeck Zahlen und Fakten zum Coronavirus in Ostholstein Zahlen und Fakten zum Coronavirus in Segeberg Zahlen und Fakten zum Coronavirus im Kreis Herzogtum Lauenburg Zahlen und Fakten zum Coronavirus in Stormarn Was sind denn die entscheidenden Punkte, an denen wir erkennen, ob unser Medienverhalten problematisch ist? Das erkennen wir zum Beispiel daran, dass ein Kontrollverlust einsetzt. Betroffene haben dann Schwierigkeiten, das Smartphone wegzulegen oder den PC auszuschalten, obwohl sie das eigentlich möchten. Oft verschieben sich auch die Routinen. Das Smartphone wird plötzlich wichtiger als die anderen Dinge, die man eigentlich tun könnte und sollte, man bleibt quasi am Smartphone kleben. Der dritte Punkt ist, dass das Smartphone oder das PC-Spiel nicht mehr zum Genuss oder zeitweisen Spaß genutzt wird, sondern um belastenden Gefühlen wie Aggressivität, Frust, Einsamkeit oder Langeweile zu begegnen. Es hat sich aber auch etwas geändert: Menschen können es heutzutage nur noch schwer ertragen, einmal nichts zu tun, oder? Ja, es haben sich viele Gewohnheiten geändert. Unsere Aufmerksamkeitsspanne ist kürzer geworden. Ich merke das sogar selber. Ich habe früher gern mal einen Film geguckt. Heute ist mir das oft zu lang, da gucke ich lieber eine Serie. Genau so ist es, wenn wir am Flughafen oder im Wartezimmer sitzen. Wir können es nicht gut tolerieren, einfach nur dazusitzen, sondern wir müssen das Smartphone rausnehmen und da raufgucken. Das sind auch genau die Punkte, an denen wir Ansätze für eine Prävention finden. Ein wichtiges Thema: Was kann denn jeder einzelne tun, um sein eigenes Medienverhalten zu überprüfen und selbst in den Griff zu kriegen, bevor es vielleicht problematisch wird? Da gibt es mehrere gute Strategien. Wir können uns für bestimmte Stunden am Tag oder das Wochenende smartphonefreie Zeit einräumen. So gewinnen wir Zeit für andere Dinge und spüren auch, ob es uns schwerfällt, das Smartphone aus der Hand zu legen. Zudem sollten wir das Smartphone nicht am Bett liegen haben oder aufladen. Da ist die Gefahr groß, dass wir es zu oft nutzen. Gut ist es auch, die Mitteilungstöne für WhatsApp oder Mails auszuschalten, so dass das Handy nicht mehr vibriert und wir sofort automatisch hingreifen. Auch hier können wir uns gut überprüfen und uns fragen: Fällt uns das schwer und gucken wir trotzdem alle fünf Minuten nach, ob es etwas Neues gibt? Auf www.suchtonline.de können sich Betroffene oder Angehörige im Internet in einem Chat zu bestimmten Sprechzeiten auch anonym persönlich beraten lassen. Das Angebot ist ein Projekt der Ambulanten und Teilstationären Suchthilfe (ATS). Für persönliche Gespräche oder Telefonate kann man sich im Kreis Segeberg auch an die Suchtberatungsstellen der ATS in Bad Segeberg, Kaltenkirchen, Bornhöved oder Norderstedt wenden. Im Kreis Stormarn übernimmt die Therapiehilfe e.V. im Norden und die Südstormarner Vereinigung für Sozialarbeit im Süden die Beratung. Beratungsstellen gibt es in Bad Oldesloe, Ahrensburg und Reinbek. Die Therapiehilfe bietet aber auch Beratungen in Bornhöved und Trappenkamp an. In Lübeck ist die Suchtberatung der Vorwerker Diakonie ein erster Ansprechpartner. In Ostholstein hilft die Ambulante und Teilstationäre Suchthilfe (ATS) weiter. Wie reagieren Eltern am besten, wenn sie das Gefühl haben, die Kinder nutzen das Smartphone zu viel. Einfach übers Wochenende wegnehmen? Nein, Bestrafung hilft da nicht. Wichtig ist, darüber mit den Kindern ins Gespräch zu kommen. Was nicht heißt, dass die Kinder machen sollen, was sie wollen und wir reden dann darüber. Nein, die Mischung ist wichtig. Kinder und Jugendliche müssen das Smartphone und den Computer nutzen können, aber je nach Alter und der Persönlichkeit des Kindes sollten Eltern diese Nutzung auch begrenzen, indem sie den Rahmen für diese Medienzeit vorgeben. Bei Erziehung- und Suchtberatungsstellen oder zum Beispiel der Initiative „Schau hin“ im Internet gibt es gute Beschreibungen, die Eltern eine Orientierung geben, in welchem Altersbereich welche Mediennutzung angemessen ist. Dazu kommt es aber immer auch auf die Umstände und die Kinder an. Welche Bevölkerungsgruppe ist besonders von Mediensucht betroffen? Am Anfang lag ein deutlicher Überhang bei Männern, aber damals wurde auch mehr die PC-Spielsucht erforscht. Umso mehr Social-Media-Sucht wir dazunehmen, umso höher wird auch der Frauenanteil. Eine besonders stark betroffene Gruppe sind auf jeden Fall auch die Jugendlichen und die jungen Erwachsenen. Am Ende kann es aber jeden treffen. Wenn es doch einmal zu einer schweren Sucht kommt und die Patienten zu Ihnen in die Klinik kommen, wie funktioniert dann die Therapie? Es gibt drei Elemente. Erstmal geht es darum, wieder einen normalen Tag-Nacht-Rhythmus hinzubekommen, wieder unter Menschen zu kommen und Kontakte zu haben. Das erste therapeutische Element nennen wir dann die Arbeit am Problemhintergrund. Welche Probleme haben dazu geführt, dass diese Person bereit für eine Sucht war. Das können familiäre Gründe sein, soziale Ängste, Depressionen oder Selbstwertprobleme. Dann gucken wir uns das Nutzungsverhalten genau an und helfen den Betroffenen, zu einer Entscheidung zu kommen, wie zukünftig ihre Nutzung von Smartphone oder PC aussehen soll. Denn dass wir einen PC gar nicht mehr nutzen, ist ja völlig unrealistisch. Die Patienten lernen aber Strategien und Kompetenzen für die Selbstkontrolle. Wie hoch sind die Erfolgschancen einer Therapie und wie hoch die Rückfallquoten? Wie groß die Rückfallgefahr ist, hängt sehr vom Einzelfall ab. Beispielsweise sind die Erfolgsaussichten bei Betroffenen besser, die erst spät mit Computerspielen angefangen und dabei kein Geld eingesetzt haben. Wie bei substanzgebundenen Süchten und psychischen Störungen im Allgemeinen – wie Essstörungen – brauchen manche Betroffenen mehrere Therapiedurchläufe, bis sie ihre Probleme bewältigt und die Sucht unter Kontrolle haben. Auch zu uns kommen manche Patienten mehrfach in die stationäre Behandlung. Wie wir aus persönlichen Kontakten wissen, schaffen es aber viele unserer Patienten nach der stationären Therapie, mit weiterer ambulanter Unterstützung in einer kontrollierten Teilabstinenz zu bleiben und einen Neustart im Leben hinzulegen, zum Beispiel als junger Erwachsener eine Berufsausbildung zu absolvieren. Von Sven Wehde