Präsenzunterricht für Abschlussklassen in SH: Wirbel um Corona-Erlass

Der Brief, den das Kieler Bildungsministerium am Donnerstag an die Schulen in Schleswig-Holstein verschickte, war eindeutig: „Alle Schülerinnen und Schüler, die im Schuljahr 2020/21 an Abschlussprüfungen teilnehmen, erhalten Präsenzunterricht unter Beachtung der Hygieneregeln und Einhaltung des Abstandsgebots“. Der Präsenzunterricht findet gemäß Stundentafel im Rahmen der vor Ort üblichen Zeitstruktur statt, heißt es darin. Priorität habe, dass die Schüler dieser Jahrgänge Unterricht in Präsenz erhalten, um sich gut auf die anstehenden Prüfungen vorbereiten zu können und Unterrichtsinhalte in direktem Kontakt mit der Lehrkraft erarbeiten zu können. Daran gab es harsche Kritik unter anderem von der oppositionellen SPD im Landtag sowie von der Lehrergewerkschaft GEW. Auch der Landesverband Bildung und Erziehung (VBE) und der Gemeinschaftsschulverband GGG waren auf der Palme. Tenor: Von den von Bildungsministerin Karin Prien (CDU) angekündigten „Lern- und Vorbereitungsangeboten in den Schulen in Präsenz“ für Abschlussklassen könne bei einem Unterricht nach Stundenplan keine Rede mehr sein. GEW-Landesvorsitzende Astrid Henke sagte, die Pläne würden „dem Infektionsschutz nicht gerecht, weil viel zu viele Schülerinnen und Schüler auf einmal in die Schulen kommen werden“. Tatsächlich sind Gemeinschaftsschulen mit Oberstufe und Berufsschulen von der Präsenzunterrichtsregel besonders betroffen, zum Teil über 300 Schüler gehören dort den Abschlussklassen an. „Kann-Regelung“ im neuen Erlass aus Kiel: Am Freitagabend sorgte dann der neue Erlass der Landesregierung für Verwirrung. Zu den neuen Corona-Regeln in Schleswig-Holstein ist nur noch zu lesen: Abweichend von den Schulschließungen „kann für die Schülerinnen und Schüler in den Abschlussjahrgängen Präsenzunterricht stattfinden und können vorgesehene Prüfungen in der Schule durchgeführt werden“. Viele Schulen im Land interpretieren diese „Kann-Regelung“ als den Handlungsspielraum, den sie bei der Organisation des Unterrichts benötigen. Lesen Sie auch „Sh.itslearning“: Unglücklicher Name für Schulplattform in Schleswig-Holstein Prien: Statt Urlaub lieber Tablets fürs Schulkind kaufen Bildungsministerin Prien bricht sich Bein – Operation nach Sturz Gemeinschaftsschulen nutzen Handlungsspielraum: Während am Montag beispielsweise ein Großteil der Abitur-Jahrgänge an den Lübecker Gymnasien mit 60 bis 90 Schülern tatsächlich nach Stundenplan gestartet ist, gehen die Gemeinschaftsschulen unterschiedlich mit der Situation um. Dort werden vielerorts auch Abschlussklassen zunächst weiter auf Distanz unterrichtet, an einigen Standorten beschränkt sich der Präsenzunterricht auf die Prüfungsfächer. Viele Berufsschulen, für die seit dem 1. Januar das Kieler Wirtschaftsministerium zuständig ist, verzichten zunächst sogar weitgehend komplett auf Präsenzunterricht. Eine Ausnahme ist das BBZ in Bad Segeberg, dass sich aufgrund seiner dezentralen Situation in der Lage sieht, die Infektionsschutzauflagen umzusetzen. Dort waren laut Schulleitung am Montag rund 360 Schüler anwesend. „Schließen Sie die Schulen, solange die Pandemie nicht unter Kontrolle ist“ – diese Forderung stellt Thorben Junge, Inhaber einer Internet- und Werbeagentur in Eutin, an Bildungsministerin Karin Prien und Ministerpräsident Daniel Günther (beide CDU). Auf der Plattform „Change.org“ hat er dazu am vergangenen Sonnabend eine Petition ins Leben gerufen. Inzwischen haben bereits 1308 Menschen unterzeichnet. Es dürfe kein Präsenzunterricht stattfinden, solange Corona nicht unter Kontrolle sei – auch nicht für die Schüler der Abschlussjahrgänge an den weiterführenden Schulen, so Junge. Die Entscheidung der Landesregierung, dass diese ab Montag 11. Januar, unter Wahrung des Sicherheitsabstandes und mit Masken ausgestattet, unterrichtet werden können, gefährde das Leben und die Gesundheit vieler Menschen: die der Lehrer, der Schüler, ihrer Eltern und anderer Angehöriger. Nach Erkenntnissen der Virologie, so argumentiert Thorben Junge, seien Schulen Orte, an denen sich das Corona-Virus ausbreite. Jugendliche würden es ähnlich weitergeben wie Erwachsene. Seiner Auffassung nach begünstige die Landesregierung den Verlauf der Pandemie mit der schrittweisen Schulöffnung in Länge und Ausmaß in unabsehbarer Weise. Der Eutiner, selbst Vater von vier Kindern, appelliert darüber hinaus an den Ministerpräsidenten und die Bildungsministerin: „Befreien Sie die Schulleiter von der Verantwortung, Ihre Beschlüsse umsetzen zu müssen, in dem Wissen, dass das vor Ort nicht möglich ist und Menschenleben dadurch gefährdet sind.“ Prien erklärt sich: Bildungsministerin Karin Prien (CDU) erklärte Montagabend dann: „Stundentafel heißt nicht Stundenplan. Natürlich kann man nicht erwarten, dass der Unterricht so stattfindet, als würde es keine Pandemie geben.“ Schulen würden die Präsenzanteile ganz unterschiedlich umsetzen; als Blockunterricht, im Wechsel oder mit allen Schülern gleichzeitig auf mehrere Räume aufgeteilt. „Wichtig ist, dass es neben Anteilen im Lernen auf Distanz auch für alle Fächer einen Präsenzanteil gibt.“ Insbesondere den Schülern der Abschlussjahrgänge, die zu Hause keine gute Lernumgebung haben, müsse das Angebot gemacht werden, Räume und technische Geräte in der Schule zu nutzen. Schüler sind zwiegespalten: Die Landesschülersprecherin Gymnasien, Anna Weigand vom Lübecker Johanneum, sagt: „Die Meinung über den Präsenzunterricht bei den angehenden Abiturienten ist zweigeteilt: die eine Hälfte freut sich über direkte Interaktion mit Mitschülern und Lehrern, die andere Hälfte ist besorgt über eine mögliche Infektion, vor allem durch die neue Virusmutation.“ Fraglich sei laut Weigand, inwiefern der jetzt stattfindende Präsenzunterricht mit geteilten Klassen und Lehrern, die zwischen zwei Klassenräumen pendeln, sinnvoller sei als Fernunterricht. Ministerium und Schulleitungen im Dialog: Das schleswig-holsteinische Bildungsministerium wies den Vorwurf, unverantwortliche Corona-Infektionsrisiken durch den Präsenzunterricht in den Abschlussklassen einzugehen, zudem zurück. „Es gelten natürlich die Hygieneregeln, die Maskenpflicht und das regelmäßige Lüften. Mehr frische Luft finden Sie in keinem Büro in Deutschland“, sagte ein Ministeriumssprecher. Zudem laufe derzeit ein intensiver Dialog zwischen den Schulleitungen und den Lehrergewerkschaften, um mögliche Missverständnisse oder Irritationen über die gewünschten Angebote zur Stundentafel und zur Umsetzung auszuräumen. Von Jan Wulf